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Zivilisationskritik sui generis

Nun habe ich es doch getan! Ich habe vielleicht meine Kultur verraten, die Kultur, die ja mein Selbstverständnis und meine Lebensgrundlage ist: Das gedruckte Buch, das sich verkauft und Honorare abwirft! Verteidigt wird dies gerade wieder in langem Sermon von Sibylle Lewitscharoff, Georg-Büchner-Preis-Trägerin, also ordiniert für Literatur, am 30. Nov. 2013 in der Welt, passend, weil der Zeitung für das Konservative.

Sie begründet in dem Text, warum sie Amazon hasse. Auf den Punkt gebracht, lauten ihre Argumente: Ein elektronisches Buch zu lesen sei ein zu oberflächlicher Vorgang. Es fehle da die Sinnlichkeit. Auch würden so die Urheberrechte unterlaufen. Und Amazon zerstöre die überlieferte Buchkultur, die damit verbundenen Arbeitsplätze; die Firma sei obendrein ausbeuterisch. Das lautet dann gutbürgerlich formuliert, wie man es kennt: „Ein elektronisch aufgerufener Text, dem die Haptik der Bucherfahrung fehlt, rauscht ziemlich rasch durch das Gedächtnis und verschwindet auf Nimmerwiedersehen." (Die „Haptik" kommt immer vor, wenn dieser Niedergang unserer abendländischen Kultur heraufbeschworen wird.)

Worum geht es? Eigentlich um das Lesen, um seine äußere Form, um die Methode, es zu tun: Kann man einen Text, den man in Form von Buchstaben sieht und im Gehirn zu Informationen und, wenn Literatur, zu Bildern verarbeitet, so wie mit einem gedruckten Buch ebensogut mit einem elektronischen Gerät erfassen?

Oh, wie weiß ich selbst eine gedruckte Buchseite zu schätzen, wo der Satzspiegel am besten für jede einzelne Seite individuell gestaltet ist! Ich kenne die Entwicklung seit Gutenberg. Ich weiß, welches etwa die Perfektion jeder Seite der sogenannten Gutenberg-Bibel ausmacht: Die Beziehung der Buchstaben zueinander war harmonisch, genau definiert. Deswegen gab es allein für den Buchstaben „e" zehn Varianten, die dazu dienten, durch die Breite des Buchstabens und damit der Letter (die Dickte) den gleichen Abstand aller senkrechten Linien zu gewährleisten und zugleich jede Zeile rechtbündig abzuschließen. Was für Setzer, was für Fertigkeiten! Heute? Setzer? Gibt es die noch? Nein, Mediengestalter sind das jetzt. Sie sitzen hinter ihren Bildschirmen irgendwo anders, in einem anderen Haus, in einer anderen Stadt, im Ausland. Fragen muss man den Lektor. Und was weiß der davon? Hurenkind? Ist noch bekannt. Aber eine Zeile einbringen?

Weiter im Geschäft: Welches Buch wird heute noch ein zweites Mal Korrektur gelesen, wenn überhaupt? Wer achtet dabei auch auf den Zeilenfluss, nur auf den Wort- nicht den Buchstabenabstand, wer steht dabei, wenn Buchdruckmaschinen literarische Ergüsse in tausendfacher Kopie als Taschenbuch fix und fertig ausspucken? Aber es geht ja um das Haptische.

Das E-Book kennt das alles nicht, braucht es nicht, kann es nicht gebrauchen. Und doch: Es funktioniert. Die Schrift ist klar und deutlich wie in einem gedruckten Buch. Nur lässt sich die Schriftgröße verändern – und es lässt, hintergrundbeleuchtet, sich nun auch im Dunkeln lesen.

Soviel zum Technischen -

Und der literarische Prozess dahinter, oder eher der verwaltungstechnische? Ich weiß die Verlagsarbeit zu schätzen: Sie besteht für mich als Schriftsteller ja darin, dass ich mit dem Lektor einen Experten zur Seite habe, der mir diplomatisch geschickt erklärt, wo ich bei meinem Text schief liege oder mich sogar irre. Der mir aus meiner Schaffenskrise hilft – schöne Vorstellung! Und dann kann ich mich darauf verlassen, hoffentlich, dass mein Buch bestmöglich vermarktet wird.

Aber in diesem Fall spreche ich nicht als etablierter Autor, sondern als einer, der sein Werk erst einmal verlegt haben möchte. Alle großen Verlage in Deutschland, wie sie immer wenigere und also mächtigere werden, bekommen jeden Monat Dutzende Manuskripte unaufgefordert zugeschickt. Das Meiste davon ist, wie es heute immer metallisch klingend heißt, Schrott. Immerhin wird der von den Fachleuten, Lektoren oder sogar Sekretärinnen (tut mir hier leid wegen der -innen, aber so ist oft noch die Aufteilung), ausgesondert: Ein Schutz vor Schund sozusagen. Welche Ängste damit verbunden sind, kann man prima bei Sibylle Lewitscharoff nachlesen: „Will man im Ernst alle Leute, die im Buchgewerbe tätig sind, zur Arbeitslosigkeit verdammen und sich mit zerfleddertem Geschreibsel zufriedengeben, das nie von einem klugen Kopf vorab kritisiert, bewertet und verbessert wurde?" (Gibt es kein dummes Zeug auf dem Büchermarkt, massenhaft?)

Nun hat Literatur ja damit zu tun, dass man sich in und mit ihr verewigen kann. Da suchen also viele den Sinn für ihr Leben, gefühlt etwa jeder zweite Deutschlehrer. Aber es gibt in all diesen Angeboten wirklich etwas zu entdecken, gäbe es – wenn in den Verlagen überhaupt die Zeit und Bereitschaft und wirtschaftliche Freiheit bestünde, all diese Seiten sauber ausgedruckten Papiers, von Versuchen bis Lebenswerken, wenigstens in Ruhe anzulesen. Bis hierhin gibt es also traditionell den Schrottscheider: Die erste Kontrollinstanz.

Die andere ist der ominöse Markt. Auf dem müssen alle bestehen, alle Abbitte leisten, alle zu Kreuze kriechen. Er entscheidet, ob ein gedrucktes Buch zum Erfolg wird – ziemlich beeinflusst allerdings, oder manipuliert, und zwar von der ersten Instanz: Von Werbemaßnahmen, Buchbesprechungen, Bestsellerlisten, Bekanntschaften, die es so viele zu geben scheint wie Bücher auf dem Markt.

Und dann ist da also Amazon mit seinem Kindle. Das lässt nur die eine Kontrollinstanz gelten. Das ist revolutionär. Ja, Amazon bedeutet in diesem Fall, sich gegen das gedruckte Buch zu entscheiden, zugleich auch gegen den herkömmlichen Verlagsbetrieb. Und ist das nicht sogar fortschrittlich, und zwar im besten Sinn?

Und so habe ich es also getan, doch: Ich habe mein Buch Der Fall des Herrn als E-Book bei Amazon veröffentlicht, einerseits als Versuch, weil ich weiß, dass man sich einer neuen Technologie nicht verschließen, sondern sich ihr öffnen sollte. Die Dampflokomotive war ausgereift, dann kam die E-Lok, der Schallplattenspieler war ausgereift, dann kam die CD, der Buchdruck war ausgereift ...

Wenn es das Kindle Direct Publishing von Amazon nicht gäbe (oder auch andere Verfahren, weil „E-Book" nicht gleichbedeutend mit „Amazon" ist), hätte ich das Manuskript nicht mehr angerührt. Es ist veraltet, würde mir ein Lektor sagen. Darin kommt etwa ein Tonbandgerät vor. Aber es war sozusagen mein erstes Buch. Ich hatte Der Fall des Herrn schon als Geschichte angelegt, als ich in der Schulzeit Zeitungen austrug, um meinen Führerschein zu finanzieren: Was hat man morgens um 5 Uhr vor Schulbeginn, ganz allein für sich in der kalten Nebelluft oder im aufgehenden Sonnenschein, nicht für Gedanken! Manchmal bin ich im Unterricht kurz weggenickt, den Kopf aber voll mit nebeligen Sonnenstrahlen.

Zu Papier gebracht habe ich die Geschichte ein paar Jahre später. Ich war 21, als ich es schrieb, wirklich noch per Hand, in einer Berliner Wohnung mit Klo auf der Treppe und Kachelofen, 65 m² für 110 DM Miete, als Student, hochnäsig, ahnungslos – ahnungslos hochnäsig und umgekehrt. Aber es hat mich bis heute gedanklich begleitet.

Ich habe das Manuskript abgetippt und als teure Kopien, die sie für mich waren (10 Pfennig die Seite), Verlagen angeboten, Rowohlt, Suhrkamp und so, die kannte ich – und Absagen erhalten, natürlich. Wusste ich, wie man packende Begleitschreiben formuliert? Meins muss in der Art gewesen sein: „Das ist ein tolles Werk! Drucken Sie es!" Vielleicht hätte ich mehr über meine Person schreiben sollen, auch mein Alter erwähnen.

Ich war ein unsicherer Mensch – und sofort entmutigt. Ich habe mein Studium beendet, dann doch Bücher geschrieben, sie also veröffentlicht, veröffentlichen lassen, angefangen mit Biografien, gefolgt von Jugendbüchern und anderen Büchern.

Und nun, nach fast 30 Jahren von Schreibmaschine zu Laserdrucker, vom Kopierer zu E-Mail, vom Fotosatz zu Book-on-Demand – lasse ich den Markt entscheiden. Nur den. Wegen der technischen Entwicklung kann ich inzwischen die erste Kontrollinstanz außen vorlassen. Andererseits verschafft mir das daher, in diesem Fall, eine seltsame Zufriedenheit. Vielleicht wäre Genugtuung der richtige Ausdruck. Ich muss mich nicht rechtfertigen, warum ich das nun veröffentlichen möchte, veröffentlicht haben möchte, angesichts einer Antwort, die typischerweise so ausgefallen wäre: Wissen Sie, die Zeiten sind hart, alle knapsen, kaum etwas rechnet sich, und Sie haben ja in dem Genre auch noch nicht reüssiert. Außerdem so etwas wie ein Krimi, die Protagonisten ohne Namen, mit literarischem Anspruch. Es tut mir leid, versuchen Sie doch mal ...

Also, ich gehe gleich zur nächsten Instanz. Meine Kultur überspringe ich diesmal. Das ist unser System. Es ist zwar das, was ich hasse, aber ich nutze es, wie alle anderen das auch tun, Waffenverkäufer und Nahrungsmittelspekulanten inklusive. Es hat auch Vorteile. Alle etablierten Verlage tun es längst auch. Das Abendland bleibt.