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Leben für den Frieden

Berühmte Menschen gegen Krieg und Gewalt im Porträt

Freitag 25. April 2014, von Andreas Venzke

Arena-Verlag, Würzburg 2009

Wen nimmt man in ein solches Buch als Persönlichkeiten auf? Schwierige Frage! Auf jeden Fall konnte ich mich dagegen wehren, auch „Mutter Teresa“ literarisch beschreiben zu müssen. Sonst aber sind doch die drin, die wirklich herausgehoben gehören.

Besprechungen

„Problematisch ist z. B., dass über die Ursachen von Gewalt und von Krieg so wenig gesprochen wird. Die Rolle des sogenannten ‘Kolonialismus’ für eine sich weltweit ausbreitende Gewalt wird z. B. verschwiegen. Auch die Auswahl der ‘berühmten Menschen gegen Krieg und Gewalt’ kann als einseitig angesehen werden, zumal der ‘Reigen’ der 13 Auserwählten erst mit Henry Dunant beginnt, dem Gründer des Roten Kreuzes und ersten Träger des Friedensnobelpreises. Was aber ist mit der Organisation des Roten Halbmond? Was mit dem tragischen Eintreten des Spaniers Bartolomé de Las Casas für die versklavten Indianer? Warum wird der Brite Bertrand Russell nicht genannt? Was ist mit dem Kampf von Desmond Tutu gegen die Apartheid in Südafrika? Gibt es tatsächlich nur so wenige Frauen, die sich gewaltfrei für den Frieden eingesetzt haben? Wäre der bis heute andauernde Kampf der ‘Madres de la Plaza de Mayo’ nicht auch erwähnenswert? Beschränkt sich das Engagement gegen Krieg und Gewalt tatsächlich auf Einzelpersonen? Gibt es nicht auch Gruppen, ja Menschenmassen, die sich – unabhängig von einer Verleihung des Friedensnobelpreises – für ein friedliches Miteinander von Menschen und gewaltfrei für Menschenrechte eingesetzt haben?“
Leseforum Bayern

„[...] Überzeugend ist auch, dass der Autor kritische Punkte im Leben der 13 großen Friedensstifter nicht verschweigt. [...] Als Manko ist zu bewerten, dass von den 13 Porträtierten nur zwei Frauen sind. S. Scholl und C. Zetkin wären z. B. nennenswert. [...] Eine gelungene, solide und erfrischende Einführung in das Thema Gewaltlosigkeit, die Lust auf mehr macht.“
Anja Hartmann Der evangelische Buchberater

„Jede Darstellung besteht aus zwei Teilen, einer ‘hautnahen’, die dem Friedensstifter nahe kommt mit direkten Zitaten, als führe Andreas Venzke ein persönliches Gespräch mit ihnen, und einer sachlich-historischen auf Distanz. [...] Das Buch liefert wichtige Fakten und regt zur Diskussion an. Ich kann es deshalb vorbehaltlos empfehlen.“
Peter Schalk alliteratur.com

„Jedes Kapitel für sich ist spannend und lesenswert!“
dn Dülmener Zeitung

„Der bekannte Jugendbuchautor A. Venzke [...] schildert im vorliegenden Band 13 Menschen, die sich auf ganz verschiedene Weise selbstlos und mutig für Frieden und Menschenrechte einsetzten. [...] Wieder fasziniert die lebendige Darstellungsweise, der lebhafte Sprung ins Geschehen, in das Venzke Daten und Ereignisse so einbettet, dass der Leser sich nicht von trockenen Fakten erstickt fühlt.“
Almuth Hochmüller Ekz-Informationsdienst

„Jugendliche, denen noch viel Hintergrundwissen fehlt, werden nicht viel von diesem Buch mitnehmen. [...] wird ein junger Mensch von der Fülle der Thematik ein wenig ‘überrollt. Für alle anderen kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Es gibt einerseits eine gute Zusammenfassung, andererseits eine gute Einführung, da sich so abstrakte Themen wie ‘Freiheit’ und ‘Courage’ an Personen festmachen und somit verfolgt werden können.“
PD AJuM der GEW Niedersachsen

„Das Buch ‘Leben für den Frieden’ will und kann den jungen Leser für diese Thematik sensibilisieren. [...] In Anbetracht des Umfangs der einzelnen Lebenswerke ist dem Autor eine gute Auswahl an Persönlichem und deren sprachliche Darstellung gelungen. Sehr empfehlenswert.“
RPPO AJuM der GEW Rheinland-Pfalz

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Leseprobe

Gegen den gemeinen und verächtlichen Krieg: Albert Einstein

Dem Gast ist von Anfang an nicht wohl, als er in Albert Einsteins Segelboot am Templiner See krabbelt. Dort, in der Nähe von Potsdam, hat sich Einstein ein schönes Haus bauen lassen. Es liegt abgeschieden nur dreihundert Meter vom Ufer entfernt. Ganz aus Holz gebaut, scheint es sich in den Strahlen der Herbstsonne zu wärmen.
Der Gast weiß zwar, dass Einstein mit seinem Boot oft auf den Seen der Umgebung fährt, aber er weiß auch, dass der weltberühmte Physiker nicht gerade als sicherer Segler gilt und außerdem nicht schwimmen kann. Das beruhigt den Gast aber auch, weil er sich sagt, ein Nichtschwimmer auf einem Boot würde wohl kein Risiko eingehen, zumal es an Bord auch keine Rettungswesten oder dergleichen gibt.
Unruhig ist der Gast eigentlich aus einem anderen Grund: Nach vorangegangener, stundenlanger Lektüre hat er sich eingestehen müssen, die ganze Relativitätstheorie nicht zu kapieren. Dabei ist er ein Experte in Schriftsachen: Als Schriftsteller ist er ebenfalls eine Berühmtheit, und weil er sich gern mit anderen berühmten Personen umgibt, hat er Einstein einmal geschrieben. Im Grunde hat er sich selbst zu einem Besuch bei ihm eingeladen.
Einstein stößt das Boot vom Ufer ab, als kaum ein Wind geht und sich am Horizont eine Reihe von Wolken zeigt. Ruhig treibt das Boot auf den See hinaus. Einstein lehnt sich an der Ruderpinne sacht zurück, streckt sich, als wäre er gerade aufgewacht, und zieht seine Pfeife hervor.
„So die Kraft der Natur zu nützen, befriedigt mich immer ganz tief“, sagt er und stopft umständlich seine Pfeife. „Hier habe ich Abstand zum Trubel der Welt und kann eigene Gedanken fassen.“
Der Gast will Einstein zur Politik befragen. Er denkt daran, dass man, wie in der Physik, auch den Krieg relativ sehen müsste. Hat sich nicht Deutschland im Weltkrieg gegen den Rest der Welt wehren müssen? Hätten die Deutschen da passiv bleiben können, gar pazifistisch, wie Einstein immer wieder empfiehlt? Der Gast versucht, mit Einstein solche Gedanken zu besprechen. Der redet vergnügt daher, während das Boot Fahrt aufnimmt. Bald schlägt das Segel ziemlich stark. Einstein wird schweigsamer. Am Horizont erhebt sich eine schwarze Gewitterwand. Es ist Zeit zurückzukehren, weiß der Gast.
Er redet weiter von seinen Ansichten und hat das Gefühl, Einstein würde ihm gespannt zuhören. Immerhin sagt der hochintelligente Mann kaum noch etwas und scheint sich auch nicht auf das Segeln zu konzentrieren. Es gelingt ihm, seine Pfeife zu entzünden, obwohl nun manchmal heftig das Segeltuch über ihnen schlägt.
„Es ist vielleicht auch relativ, wie man den Gebrauch von Waffen beurteilen sollte“, sagt der Gast aufgeregt. „Vielleicht gibt es doch Situationen, wo man sich einfach wehren muss, wo sich ein Volk wehren muss.“
Einstein wendet endlich das Boot, das der Wind nun wie mit Schlägen vor sich hertreibt. Plötzlich sagt er mit fester Stimme: „Ich glaube nicht, dass in der Politik etwas relativ sein sollte. Da kommt es mir auf Prinzipien an. Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon. Er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.“
Der Gast klammert sich mittlerweile am Rand des Bootes fest, das einen wilden Tanz aufzuführen scheint. Er ruft nun laut in den Wind: „Wenn zum Beispiel die eigene Familie bedroht wird ...“, als das Segel umschlägt und ihn beinahe am Kopf trifft.
Einstein lacht kurz auf und sagt: „Entschuldigung. Manchmal trifft es einen doch überraschend. Auf jeden Fall ist es etwas anderes, ob man seine Familie zu verteidigen hat oder das sogenannte Vaterland. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg.“
Der Gast schweigt nun und denkt nur noch daran, heil an Land zu kommen. Als die ersten schweren Regentropfen fallen, macht Einstein das Boot am Steg fest. Er hält seine Pfeife am Brennen und sagt zu dem aschfahlen Gast: „Nur ahne ich inzwischen, dass es unter den Menschen solche gibt, die andere Menschen nicht als solche anerkennen. Vielleicht haben Sie doch recht: Wenn nicht die Macht der Welt in die Hände der schlimmsten Feinde der Menschheit geraten soll, könnte vielleicht auch ein anderes Prinzip als die Gewaltlosigkeit gültig sein ...“
In seinem Haus bietet Einstein dem Gast einen heißen Mokka an, doch der hat nicht mehr viele Worte und entfernt sich schnell. Keine fünf Minuten später prasselt ein Regen nieder, als wolle der Himmel die Erde von allem Schmutz reinwaschen.

Albert Einstein (1879-1955) ist einer der berühmtesten Wissenschaftler der Weltgeschichte. Seine Relativitätstheorie bedeutete eine wissenschaftliche Revolution; sie war der Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Entdeckungen, die den Menschen auf dem Weg zum Verständnis der Welt riesige Schritte vorangebracht haben. Einstein wirkte aber auch als einer der wichtigsten Kämpfer für den Frieden.
Albert Einstein kam am 14. März 1879 in Ulm zur Welt, als Sohn jüdischer Eltern, die zu ihrer Religion keinen engen Bezug mehr hatten. Beruflich hatte der Vater Hermann in der Branche der Elektrotechnik keinen großen Erfolg. Die Familie versuchte zweimal einen Neuanfang, zunächst in München, wo der junge Albert aufwuchs, dann in Italien, wohin der Gymnasiast nicht mehr folgte. Er blieb in München in einem Internat und lehnte sich auf gegen das strenge System von Schule und Staat. Das ging so weit, dass er mit 15 Jahren die Schule verließ und sogar die deutsche Staatsangehörigkeit aufgab. Er ging für ein Jahr zu seinen Eltern nach Italien, ehe er sich entschied, in der vergleichsweise freiheitlichen Schweiz weiter die Schule zu besuchen und zu studieren. Zwar galt er schon damals als Sonderling, doch konnte er sich, als Physiker, gegen alle Widerstände durchsetzen.
Nach dem Studium arbeitete Einstein zunächst als Hilfslehrer, ehe es ihm gelang, eine Beamtenstelle im Patentamt von Bern zu erlangen. Damit hatte er die Gelegenheit, seinen ganz eigenen Interessen nachzugehen, denn allzu anspruchsvoll war die Stelle nicht. Die führten schließlich dazu, dass er in Gedankenexperimenten zu Schlussfolgerungen kam, die ein ganz neues Weltbild schufen: Unter der Voraussetzung, dass es nichts schnelleres als das Licht geben kann, gelangte er zu der Erkenntnis, dass Masse, Raum und sogar die Zeit nicht fix sind, sondern sich „relativ“ verändern können.
Einstein veröffentlichte seine wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten schon im Jahr 1905, doch es dauerte einige Zeit, ehe sich seine „Theorien“ weltweit durchsetzten. In den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann dann der fast absolute Ruhm Einsteins. Er wurde zu einer der berühmtesten Personen der Welt, wenn nicht zur berühmtesten, und das gilt bis heute. Zu dieser Zeit lebte er in Berlin, einer weltoffenen Stadt. Kulturell und wissenschaftlich brummte die deutsche Hauptstadt. Schon 1914 war Einstein dem Ruf gefolgt, unter großzügigen Sonderbedingungen in Berlin zu forschen. So hatte er die Möglichkeit zu einem fruchtbaren Austausch mit weltbekannten Persönlichkeiten, die um die Ecke zu treffen waren. Zugleich erlebte er aber hautnah, wie die Deutschen auf ihren absoluten geschichtlichen Tiefpunkt zutrieben oder, vielleicht besser gesagt, sich treiben ließen.
Einstein setzte seinen ganzen Einfluss ein, um sich immer wieder für den Frieden und gegen Gewalt und Krieg auszusprechen. In zahlreichen Erklärungen wandte er sich gegen das Militär, gegen das Abrichten von Menschen zu Soldaten, dabei auch scharf gegen den Nationalismus, wenn also das eigene Volk als etwas Besonderes herausgestellt wird, ihm gar das Recht zugesprochen wird, über andere zu herrschen und sie zu unterdrücken. In Deutschland war Einstein daher bei vielen verhasst, denn der Nationalismus war gewissermaßen „in“, die Geisteshaltung der Zeit.
Als dann Einsteins Theorien auch in Experimenten bewiesen werden konnten und er 1921 den Nobelpreis für Physik erhielt, war sein Ruhm beinahe grenzenlos. Trotzdem blieben die Zweifler, vor allem in Deutschland. Dort suchte man gerade Schuldige am verlorenen Weltkrieg (1914-1918) und der schlimmen wirtschaftlichen Lage, die geprägt war von Geldentwertung und Massenarbeitslosigkeit. Zum Sündenbock wurden die Juden gestempelt, die angeblich an allem Unheil in Deutschland schuld waren. Diese Sicht vertraten besonders aggressiv die Nationalsozialisten unter der Führung von Adolf Hitler. Einstein machte man zu einem „jüdischen“ Wissenschaftler und stellte seinen Theorien eine „deutsche Physik“ entgegen. Man störte seine Veranstaltungen und pöbelte ihn an. Einstein musste um sein Leben fürchten.
Als dann die Nationalsozialisten 1933 die Herrschaft an sich rissen, hatte sich Einstein zum Glück rechtzeitig in Sicherheit gebracht, und zwar in den USA, wo er sein Leben hochangesehen beschloss. Bis zum Schluss setzte er sich für eine friedliche Welt ein; für dieses Ziel warf er seinen ganzen Einfluss als Berühmtheit in die Waagschale. Trotzdem hatte er angesichts der deutschen Gräueltaten seine absolute pazifistische Haltung geändert. Mit Blick auf das Nazi-Reich, das mit dem Zweiten Weltkrieg einen Vernichtungs- und Ausrottungskrieg führte, sagte er: „Gegen organisierte Macht gibt es nur organisierte Macht. Ich sehe kein anderes Mittel, so sehr ich es auch bedauere.“ Folglich gab er sich auch dazu her, zum Bau der Atombombe aufzurufen, weil er meinte, man müsste den Deutschen bei dieser Erfindung zuvorkommen und ihr Terrorregime und den Krieg stoppen, um weitere Todesopfer zu vermeiden. Damit hatte sich Einstein stellvertretend für die moderne Physik in einen moralischen Konflikt begeben: Ausgerechnet die Vertreter einer Wissenschaft, die man sich bis dahin in einem Elfenbeinturm vorstellte und die den Fortschritt und das Wohl der Menschen zum Ziel haben sollte, konnten nun zur Entwicklung der gewaltigsten Waffen in der Geschichte der Menschheit beitragen – Waffen, mit denen, wie man bald erkennen musste, die gesamte Zivilisation ausgelöscht werden konnte.
Zwar bezeichnete Einstein später sein Vorgehen als „großen Fehler in seinem Leben“, doch waren die Nationalsozialisten tatsächlich zu allem entschlossen und es bedurfte gewaltiger Kraftanstrengungen ihrer Kriegsgegner, erkauft mit einer Unzahl an Menschenleben, um das „Dritte Reich“ zu besiegen. Außerdem hatte er auch die weitere Entwicklung nicht vorhersehen können: Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum Kalten Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen West und Ost, zwischen den Supermächten USA und UdSSR, wobei über Jahrzehnte hinweg die Gefahr bestand, dass die Menschheit sich mit dem Einsatz der Atombombe selbst vernichten könnte. Immer wieder rief Einstein entschieden für den Frieden in der Welt auf.
Albert Einstein starb am 18. April 1955 in den USA, wo er nie recht heimisch geworden war, vor allem auch deswegen nicht, weil man dort im Kalten Krieg bald gegen alle Bürger vorging, die irgendwie verdächtig waren, „Kommunisten“ zu sein. Nach Deutschland wollte er nicht zurückkehren. Er konnte den Deutschen nicht verzeihen, was sie seinen Glaubensbrüdern angetan hatten.

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Bonusmaterial

Diese Geschichte hatte ich „eigentlich“ zum Dalai Lama geschrieben ...

Karma, Buddha und Nirwana: Der Dalai Lama

Mein Freund Martin hat mich auf die Veranstaltung mit dem Dalai Lama mitgenommen. Allerdings hätte ich nicht einfach nur mitkommen können. Er hat auch die Eintrittskarten besorgt, und sie zu bekommen, war nicht so leicht. Was die überhaupt gekostet haben, will ich gar nicht erst wissen. In der Zeitung, in Radio und Fernsehen wird seit Tagen über dieses Ereignis berichtet, fast so, als käme der Papst.
„Martin“ soll ich übrigens nicht mehr sagen. Bei seinem Namen unterscheidet er inzwischen. Für alles Offizielle heißt er zwar noch Martin, weil sich das nicht so leicht ändern lässt, für seine Freunde aber seit ein paar Monaten Cintomani. Das ist Tibetisch und bedeutet „Flammende Perle“ oder so ähnlich. Ich darf ihn aber noch Martin nennen, weil ich sein bester Freund bin. Das hat er schon oft betont, seit er mich eingeladen hat. Dabei haben wir uns in letzter Zeit, seit er mit seinem Buddhismus angefangen hat, gar nicht mehr so oft gesehen. Nur auf der Veranstaltung soll ich ihn möglichst bei seinem neuen Namen nennen. Den kann ich mir aber schlecht merken. Ich muss immer wieder auf den Zettel schauen, den ich mir deswegen geschrieben habe.
Wir sind schon früh in der riesigen Halle, die in meiner Vorstellung gar nicht zu dem Dalai Lama passt. Für mich gehört er eher in eine Kirche. Die Halle ist eigentlich eine Eissporthalle und entsprechend kühl, auch kühl eingerichtet: Mit Plastiksitzen und Absperrbügeln und riesigen Neonlicht-Strahlern. Jedoch hat man die ganze Halle rot gestaltet. Rot sind die Schilder, rot die vielen Teppiche, rot das Podium, wo eine Art Thron für den Dalai Lama steht, und rot sind fast alle Menschen angezogen, die inzwischen die Halle füllen. Auch Martin trägt seit neustem so einen roten Umhang. Ich hatte das Gefühl, dass uns die Leute deswegen in der U-Bahn komisch angeguckt haben. „Hey peace, Alter!“, sagte einer zu Martin und spreizte den Zeige- und Mittelfinger. Martin lächelte und der Mann lachte.
Wir sind extra früh gekommen, um einen guten Platz zu haben. Aber die Halle ist schon um zehn Uhr morgens fast ganz besetzt. „Mist Martin!“, sage ich, „jetzt müssen wir doch hinten sitzen!“ Martin schaut mich an und zieht die Augenbrauen zusammen. Ich bin kurz davor, mich zu entschuldigen. Doch weiß ich nicht genau, was ich vielleicht falsch gemacht habe: Ihn doch wieder Martin zu nennen oder Mist gesagt zu haben? Sonst hätte ich eigentlich Scheiße gesagt. Ich muss mich auf dieser Veranstaltung besinnen, das ist mir schon klar.
Auch ich werde bald ruhig, wie alle anderen. Die meisten schweigen vor sich hin und sitzen sogar auf den Plastikstühlen im Schneidersitz. Einige rutschen aber vorsichtig hin und her und strecken sogar mal die Beine aus, auch irgendwie vorsichtig. Andere sitzen aber die ganze Zeit so da, und sie gucken auch die ganze Zeit zum Podium. Auch Martin ist bald in diesem Zustand.
Endlich erscheint der Dalai Lama. Ich höre, wie die Menschen bei seinem Auftreten tief durchatmen. Einige fangen sogar an zu weinen. Ich klatsche, wie ich das kenne, wenn man eine berühmte Person zu sehen bekommt. Auch ein paar andere klatschen, hören aber schnell wieder auf. Martin hebt mahnend den Finger.
Endlich spricht der Dalai Lama. Ich versuche aufmerksam zuzuhören. Mein Englisch ist nicht so gut. Martin hebt ab und zu wieder den Finger, wenn eine Stelle besonders wichtig ist. Leider verstehe ich doch nicht so viel. Es geht um Bewusstsein, Liebe, Frieden, Erleuchtung und Freiheit, auch um „Freiheit für Tibet“. Da wird dann doch geklatscht. Ich habe noch nie jemanden solange reden gehört. Mir tut alles weh.
Als der Dalai Lama mal schweigt, atmen alle tief durch. Manche öffnen auch erst die Augen. Ich hatte eigentlich gedacht, sie wären eingeschlafen. Ich hoffe auf eine Pause, da fängt der Dalai Lama wieder an zu reden, noch langsamer als vorher, und diesmal auf Tibetisch, was nun von einer anderen Person ins Englische übersetzt wird. Ich höre, dass die Meditation beginnt. Martin zieht seine Beine noch stärker an, indem er die Füße mit den Händen festhält. Ich versuche mich zu strecken, wie heimlich.
Immer neue Worte dringen nun an mein Ohr, im immer gleichen Tonfall, ohne Schreien, ohne Flüstern, ohne hohe, ohne tiefe Stimme. Um mich herum murmeln viele vor sich hin. Das tue auch ich irgendwann, allerdings eher, um überhaupt irgendetwas zu tun. Ich versuche krampfhaft, den Blick auf meine Armbanduhr zu vermeiden. Es scheint Stunden zu dauern, ehe die nächste Minute angezeigt wird. Ich höre in der Stimme des Dolmetschers ständig Worte wie „Leiden“, „Geist“, „Gefühl“, „Pfad“, „Erleuchtung“, „Weisheit“, dazu wieder und wieder „Karma“, „Buddha“ und „Nirwana“.
Irgendwann, als alle mal wieder durchatmen, schleiche ich mich aus der Halle und gehe aufs Klo. Auch andere bewegen sich dorthin, wie auf Zehenspitzen. Sie sehen erleichtert aus. Wahrscheinlich befinden sie sich schon in dem Schwebezustand, von dem mir Martin vorgeschwärmt hat. Den würde man erreichen, wenn man dem Dalai Lama in seinen Worten folgt. Ich habe inzwischen Hunger, finde aber keinen Essensstand. So trinke ich aus der Wasserleitung, wie andere auch.
Anschließend überlege ich stark, ob ich wieder in die Halle zurückgehen soll. Ich tue es dann doch, weil ich mir sage, Martin soll nicht das viele Geld für mich umsonst ausgegeben haben. Er hat meine Abwesenheit anscheinend gar nicht bemerkt. Er bewegt nur immer leicht den Oberkörper hin und her und murmelt, wie das nun auch der Dalai Lama tut. Noch einmal versuche ich mich zu konzentrieren. Lautes Murmeln verkündigt mir dann, dass etwas Neues geschieht: Der Dalai Lama ist aufgestanden und geht sich verbeugend aus der Halle. Ich schaue auf die Uhr: Zwei Stunden fehlen mir.
Mit Martin, der nun immer leicht grinst, verlasse ich nach einer weiteren halben Stunde ebenfalls die Halle. Wir reden nicht viel. Auf dem Weg nach Hause vertiefe ich mich in der U-Bahn noch in einige der Informationsschriften, die da überall auslagen. Ich erfahre noch viel: Über den Kampf der Tibeter für ihr Land, über das Prinzip des Buddhismus und immer wieder über das Leben „seiner Heiligkeit“.
Martin fragt mich noch, ehe ich aussteige, ob es mir gefallen hat. Ich antworte „Ja!“ und erkenne noch, ehe die Türen sich schließen und der Zug wieder abfährt, dass ich damit wohl keine Antwort im Sinne des Dalai Lama gegeben habe. Denn der wird immer genau die Wahrheit sagen. Ich weiß aber noch nicht einmal, ob ich Martin je wiedersehen werde.

Es erscheint wie ein besonderes Zeichen, dass sich so viele Vertreter der westlichen Kultur von einem Oberhaupt des Buddhismus, dem Dalai Lama, über alle Maßen angezogen fühlen. Die Wohlstandskinder folgen einem Weg, dessen Ziel die völlige Leere sein soll. Der Buddhismus verspricht die Reinigung der Seele im Schnellkurs. Jeder ist für sich selbst verantwortlich und kann in einer Vielzahl von – meist teuren - Kursen lernen, wie man abschaltet. Keine andere Religion boomt in Europa und Nordamerika so sehr.
Dabei ist der Buddhismus eigentlich schwer zu verstehen, auch wenn seine Grundzüge leicht erscheinen: Es gibt keinen Gott, keinen Sohn Gottes, keinen Heiligen Geist, keine Ursünde, kein Jüngstes Gericht, keine Auferstehung, kein Paradies und keine Hölle. Stattdessen lautet die Botschaft des Buddhismus, dass der Mensch wiedergeboren wird, und zwar immer wieder, wobei das Leben Leiden ist, hervorgerufen durch Begierden. Die gilt es zu überwinden, um so dem Kreislauf der Wiedergeburten zu entkommen und hoffentlich das Nirwana zu erreichen, den Ort des dauerhaften Glücks oder schlicht der völligen Leere. Dazu ist es nötig, in jedem neuen Leben auf eine höhere Ebene zu gelangen, was durch gute Taten, durch Meditation oder das Lesen heiliger Texte gelingen kann. Gründer dieser Religion war Siddharta Gautama, ein indischer Prinz, der vor über 2500 Jahren lebte und den man den Buddha nannte, den „Erwachten“.
Wie in jeder Religion gibt es auch im Buddhismus verschiedene Richtungen. Im Westen ist die bekannteste der tibetische Buddhismus mit dem Oberhaupt des Dalai Lama. Diese Richtung ist in ihren Formen freilich so kompliziert, dass sie selbst viele Eingeweihte nicht verstehen. Es gibt etwa ein wichtiges Ritual, das Kalachakra heißt und sich über Stunden hinzieht, wobei immer wieder verschlüsselte tibetische Glaubensformeln gesprochen werden.
Der Dalai Lama ist eine wirklich ausgewählte Persönlichkeit. „Dalai Lama“ ist wie „Papst“ nur der Titel einer entsprechenden Person und bedeutet „ozeangleicher Lehrer“. Der Dalai Lama ist angeblich dem Kreislauf der Wiedergeburten bereits entronnen und nur deswegen wieder als Mensch erschienen, um anderen zu helfen. Heutzutage ist damit Tenzin Gyatso gemeint. Er wurde am 6. Juli 1935 geboren und als kleines Kind zum Dalai Lama bestimmt. Nach der Tradition erkannten ihn bedeutende Mönche anhand bestimmter Zeichen.
Tenzin Gyatso wurde entsprechend ausgebildet und hätte wohl lebenslang sein Land Tibet geführt, das allerdings eine Diktatur von Mönchen war. Er selbst hatte hundert Sklaven als persönliche Diener. Zu dieser Zeit befand sich Tibet in einem mittelalterlichen Zustand. Seit Jahrhunderten hatte sich dort nichts geändert. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte keine Rechte. Es herrschte Leibeigenschaft und tatsächlich noch Sklaverei. Viele Menschen hungerten und mussten mangels medizinischer Hilfe an den einfachsten Krankheiten sterben. Dabei drohten ihnen für jede Form des Widerstands grausame Strafen. In jedem Kloster wurde gefoltert. Die Lebenserwartung betrug im Schnitt 35 Jahre. Die Rolle jedes einzelnen Menschen war auch durch den Buddhismus festgelegt: Demnach hatte derjenige, der Diener war, in seinen früheren Leben noch keine höhere Stufe erreicht.
Angesichts dieser Situation eroberte 1950 die chinesische Armee das Land. Die Chinesen gingen, gemäß ihrem Glauben an den Kommunismus, radikal gegen die Mönche vor. In dieser Situation flüchtete Tenzin Gyatso 1959 aus Tibet und ließ sich im benachbarten Indien im Süden des Himalaja nieder. Von dort unterstützte er zunächst den gewaltsamen Widerstand seiner Landsleute, unterstützt von den USA, die an vorderster Front gegen den Kommunismus kämpften. Angesichts eines übermächtigen Gegners verschlimmerte das aber nur die Lage der Tibeter: Tausende kamen ums Leben oder verließen ihre Heimat. Zur Befreiung seines Landes setzte der Dalai Lama schließlich auf die Gewaltlosigkeit, obwohl dies nicht alle seine Landsleute befolgen wollen. 1989 erhielt er sogar den Friedensnobelpreis, wobei bis heute nicht deutlich wird, welches seine besonderen Ideen für den Frieden sind.
Ob Tenzin Gyatso selbst je wieder nach Tibet zurückkehren wird, ist ungewiss. Für die Chinesen steht er für ein „freies Tibet“, das nicht erwünscht ist, weil sie dadurch die Einheit ihres Landes bedroht sehen. Außerdem wehren sie sich gegen die Einmischung des Westens in ihre Politik. So ist es auch fraglich, ob die besondere Form des tibetischen Buddhismus weiter bestehen wird. Immerhin muss nach dem Tod von Tenzin Gyatso abermals ein Dalai Lama in Tibet gefunden werden. Bis dahin aber wird der lebende Dalai Lama besonders den sinnsuchenden Menschen des Westens ein Religionsersatz sein.

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