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Zeichen setzen!

12 Porträts berühmter Frauen

Freitag 3. Juli 2015, von Andreas Venzke

Frauen, die etwas besonderes geleistet haben, die sich nicht unterkriegen ließen, im Gegenteil, die Mut machen – nichts Besonderes, sollte man meinen, oder vielleicht doch: Dieses neue Buch ist beinahe ein Abriss über die moderne Geschichte der Frau, in Politik, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und Abenteuer, und vielleicht liegt der Reiz auch darin, dass als Autor ein Mann dieses Thema behandelt: In seiner Art der Bewunderung.

Eine schöne Zusammenfassung von „Zeichen setzen!“ ist zum Anlass der Buchpräsentation von Petra Völzing in Vauban actuel erschienen:

„Vauban-Autor Andreas Venzke hat ein neues Buch geschrieben und lädt zu einem unterhaltsamen Abend nicht nur für das weibliche Geschlecht. Vorgestellt werden unterschiedlichste Frauen, die Mut bewiesen und etwas Besonderes geleistet haben. Die Texte werden im Wechsel von jungen Frauen vorgetragen.
Das neue Buch versammelt Porträts von 12 ganz unterschiedlichen Frauen, die aber alle für Eins stehen: Den Willen zu haben, sich in der Welt durchzusetzen und einen eigenen Weg zu gehen, gegen alle Widerstände. Bewusst ist das Spektrum weit gefasst. Die ausgewählten Persönlichkeiten sind jeweils typisch, sowohl für ihre Zeit als auch für den bereich, in dem sie wirkten, als Reisende, Unternehmerinnen, in der Wissenschaft, der Politik und der Kunst. Deutlich wird, wie sehr die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen auf die jeweiligen Frauen gewirkt haben. So entsteht anhand der ausgewählten Beispiele zugleich auch eine Art Abriss über die Situation der Frau im historischen Kontext, angefangen von Katharina von Bora in der beginnenden Neuzeit über Rosa Luxemburg in der zeit schärfster politischer Kämpfe bis zu Malala, die heute noch gegen „mittelalterliche“ Verhältnisse kämpfen muss.
Immer wird deutlich, wie sehr die Frauen meist kämpfen mussten, um sich eben als Frau durchzusetzen. Es entsteht eine Art Kaleidoskop über das Leben von Frauen von gestern bis heute, und zwar immer unter einem Gesichtspunkt: Es lohnt sich, Grenzen zu überschreiten und neue Wege zu gehen, zu kämpfen, Mut zu zeigen, sich als Frau nicht unterkriegen zu lassen.“

Hier auch eine nette Beschreibung in der Süddeutschen Zeitung:

„Dem Autor gelingt es, die Persönlichkeiten auch für junge Leser spannend und verständlich zu beschreiben, denn er lässt sie zwar in ihrem historischen Kontext, entgeht aber dem Versuch, sie nachträglich zu überhöhen, und macht sie durch kurze fiktive Berichte aus ihrem Leben lebendig, die auf sorgfältigem Quellenstudium basieren."

... und in eselsohr, Fachzeitschrift für Kinder und Jugendmedien:

„Wie schön, dass jetzt mit Andreas Venzke ein Mann für den neuesten Band der Reihe Arena Bibliothek des Wissens verantwortlich zeichnet [...] Lebendig schildert der Autor, der sich unübersehbar dem gründlichen Quellenstudium hingegeben hat, wichtige Stationen oder Situationen in der Biografie der vorgestellten Frauen. [...] spannend zu lesen [...]"

Leseprobe

Frida Kahlo (1907–1954)

Selbstbespiegeln

Na, schönes Mädchen! Musst du wieder auf dem Rücken liegen und mich anstarren, und damit also dich selbst? Aber ärgere dich nicht, jedenfalls deswegen nicht! Das war doch damals schon eine gute Idee, beim ersten Mal, als deine Mutter mich über dein Bett gehängt hat. So hast du die Möglichkeit bekommen, dich so genau zu betrachten, wie das sonst nie ein Mensch machen würde.
Du weißt, was ein Spiegel dir zeigt? Er gibt den Blick frei in das Innere eines Menschen. Das hast du einzigartig genutzt. So viele Porträts hast du von dir gemalt, immer seltsam übertrieben. Hast alle Gefühle aus deinen Gesichtszügen genommen, als hättest du eine Maske aufgesetzt, hast dir etwas Männliches gegeben, die kräftigen Augenbrauen noch betont, den Flaum auf der Oberlippe wie einen Schnauzbart gemalt! Du bist da gnadenlos, übertrieben ehrlich, so wie du dich in mir anschaust. Nicht ohne Grund hat nun sogar Pablo Picasso zu dir gesagt: „Keiner von uns kann einen Kopf machen so wie Frida Kahlo.“
Was diese Ärzte der Yankees leisten können! Vier deiner geschädigten Rückenwirbel haben sie mit einem Metallstück fixiert, jetzt, 1946, über 20 Jahre nach deinem Unfall. Das zu machen, leuchtet ein. So werden die Wirbel nun endlich stabil sein. Aber wieder musst du liegen, starr und steif. Nur kennst du das ja zur Genüge. Es ist zu einem Teil deines Lebens geworden. Und was du gelernt hast: Mit meiner Hilfe in dich zu schauen wie sonst kein anderer. Ist es nicht so? Deine Gemälde sind inzwischen berühmt, fast schon so wie die deines Mannes, Diego Rivera. Was er im Großen schafft, machst du spiegelbildlich im Kleinen! Er schaut in die Welt und du schaust in dich.
Vielleicht kannst du es besser ertragen, hier in einem New Yorker Krankenhausbett bewegungslos liegen zu müssen, mit der Vorstellung, nun wieder dort in dem einen von Mexiko-Stadt zu sein, wo alles für dich neu begann. Dein Leben hat ja Halt gemacht, da warst du erst 17 Jahre alt. Wenn man nur immer wüsste, wo auf dem Lebensweg die wichtigen Kreuzungen liegen – wo man sich entscheiden muss: Gehe ich links oder gehe ich rechts? Vielleicht kennt man ja den Weg, in groben Zügen. Doch du konntest nicht mehr entscheiden. Denn der eine Weg war plötzlich versperrt. Und auf dem anderen gab es mich plötzlich über dir, und dazu Pinsel und Farbe. So ist dir der Weg vielleicht gemacht worden.
Wolltest du nicht Ärztin werden, ausgerechnet? Hattest du nicht eigentlich deinen Weg schon gefunden? Zu den Yankees wolltest du damals, raus aus Mexiko und in die USA. Und nun liegst du bei ihnen und bist auf einem ganz anderen Weg zu ihnen gekommen, als berühmte Künstlerin, mit Geld im Überfluss! Damals hast du dafür malocht, hast du die mühsam erarbeiteten Dollars gespart, um bei den Yankees sogar studieren zu können. Und dann passte der Busfahrer nicht auf. Er übersah die Straßenbahn. Der Bus, in dem du saßt, brach entzwei – und du ja eigentlich auch. Deine Kleider hatte es dir vom Leib gerissen, voller Blut warst du, Goldstaub aus einem aufgerissen Säckchen war über dich gerieselt. Und aus der Mitte deiner Hüfte ragte eine Eisenstange. Dass du das überlebt hast!
Deine Mutter hatte damals die Idee, dein Krankenbett mit einem Himmel im Renaissancestil zu versehen. Sie brachte an dem Bett einen Baldachin an und hängte mich an dessen Unterseite. So konntest du dein Spiegelbild als Modell zum Malen nehmen. Was seitdem für Bilder entstanden sind, gnadenlos ehrliche, ernste Bilder, die du über dir siehst, aber auch in dir, Bilder, die du in dir trägst. Wie hättest du auch normal denken können, nach dem was geschehen war? Dein Gipskorsett reichte damals von den Schlüsselbeinen bis zum Becken. Am Tag zuvor warst du noch eine frisch aufgebrochene Blüte gewesen, am nächsten Tag eine abgebrochene. Seitdem lebst du auf einem Planeten voller Schmerzen, durchsichtig wie Eis. Aber so war es, als ob du alles auf einmal in ein paar Sekunden gelernt hättest.
Du kannst nun wieder so viel denken, nachdenken. Was anderes bleibt dir nicht. Als du damals deine Mutter wiedersahst, sagtest du zu ihr: „Ich bin nicht gestorben, und außerdem habe ich etwas, wofür es sich zu leben lohnt: die Malerei.“
Und vielleicht hat es sogar einen Sinn, dass du hier schon wieder im Bett liegst, eingesperrt in ein Gipskorsett, wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und mit den Beinchen zappelt, oder sogar wie ein toter Käfer – dass du dich aber die ganze Zeit beobachten kannst, weil ich bei dir bin? Ich jedenfalls helfe dir gern, dich zu sehen. Sieh nur, wie besonders du bist! Schau mich nur weiter an. Dazu bin ich da: Damit du Antworten findest, wie das nur wenige außer dir können!

Frida Kahlo (1907–1954) zählt heute zu den wichtigsten Persönlichkeiten der modernen Malerei. In Mexiko, heißt es, wird sie fast wie eine Heilige verehrt. Als 17-jähriges Mädchen geriet Frida Kahlo in einen so schweren Verkehrsunfall, dass ihr Überleben wie ein Wunder schien. Sie behielt jedoch große Schäden zurück, besonders an der Wirbelsäule. Immer wieder musste sie deswegen operiert werden. Monate ihres Lebens verbrachte sie bewegungsunfähig in Krankenbetten. Trotzdem wollte sie das Leben in vollen Zügen genießen. Durch ihre Heirat mit dem berühmten mexikanischen Maler Diego Rivera verkehrte sie in den wichtigsten Kreisen Mexikos, ehe sie mit ihrer eigenen Kunst berühmt wurde. Diese verkörpert einen besonderen persönlichen Stil. Frida Kahlo stellte auf der Leinwand dar, wie es in ihrem Inneren aussah: Was sie dachte und fühlte, woran sie glaubte und worauf sie hoffte, wie sie litt und sich freute.
In ihrer Kunst betonte sie bewusst ihre Identität als Mexikanerin. Mexiko als Land ist in seiner Geschichte gespalten zwischen einer spanischen und indianischen Identität. Frida Kahlo betonte dabei diese Mischform und bekannte sich deutlich auch zur indianischen Herkunft, die mütterlicherseits die ihre war. Typisch für die Mexikaner, verglich sie ihr Land mit dem der US-Amerikaner, mit den Yankees im Norden. Während Mexiko im Vergleich bäuerlich war, machten die USA eine stürmische industrielle Entwicklung durch und beherrschten bald die Welt. Sie schrieb schon 1931 aus New York: „Ich empfinde ein wenig Hass auf diese ganzen reichen Säcke, denn ich habe Tausende von Menschen gesehen, die im schlimmsten Elend leben, nichts zu essen und keinen Platz zum Schlafen haben, und das hat sich mir am stärksten eingeprägt.“
So stellte sie sich auch zeitlebens entschieden gegen die herrschenden gesellschaftlichen Klassen. Frida Kahlo war wie ihr Mann kommunistisch ausgerichtet, je älter sie wurde, desto bedingungsloser. Diese Seite wird in ihrem Leben kaum noch hervorgehoben. Dafür ist sie heute besonders unter Frauen bekannt. Frida Kahlo gilt inzwischen als ein Vorbild für die „feminine“ Seite der Kunst. Rücksichtslos stellte sie die Frau (meist sich selbst) auch noch in den intimsten Situationen dar, in der Sexualität, bei der Geburt, im Tod, und das immer ausgemalt von symbolischen Bezügen: Auf einem Gemälde hält sie ihren geliebten Mann Diego Rivera in den Armen wie ein Baby.
Frida Kahlos weiteres Leben entschied sich an dem Tag ihres Verkehrsunfalls. Sie versuchte das Leben auszukosten, das sie aber immer wieder – im Wortsinn – niederwarf. Auch ihr übermäßiges Trinken und Rauchen forderte seinen Tribut. Als ihr schließlich ein Fuß amputiert werden musste, hatte sie allen Lebensmut verloren. Sie starb mit nur 47 Jahren.

Was ist Kunst?

Die Beurteilung darüber, was Kunst ist, ist heute ziemlich willkürlich geworden. Entscheidend ist der „Marktwert“. Vermögende investieren in Kunst und spekulieren damit auf einen Gewinn. Aber gerade auch deswegen bietet die (moderne) Kunst die Möglichkeit, neue Wege zu gehen und vielleicht erfolgreich zu sein, ohne Rücksicht auf das Geschlecht.

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Bonusmaterial

Hier ein 13. Porträt ... Dieser Text konnte leider aus bestimmten, internen Gründen nicht in das Buch aufgenommen werden.

Simone de Beauvoir (1908–1986)

Die eine Beziehung, und die anderen

Ich kann es nicht glauben: Ich werde nach Amerika fahren, im Januar 1947. Ich soll in dem ganzen Land an Universitäten lesen. Mon cher amour, Sartre, mein süßer Kleiner, war auch schon dort, zweimal sogar. Er hat mir so viel davon erzählt, von diesem Land der Träume.
Es passt ihm sogar, dass ich verreise, denn aus den USA hat sich Dolores Vanetti bei ihm angekündigt, eine Französin, noch mit einem Amerikaner verheiratet. Er hat sich, als er dort war, in sie verliebt, und sie will nun unbedingt bei ihm sein.
Vielleicht bin ich gekränkt von seiner Liebe zu der Vanetti, aber ich gestehe sie ihm zu. Wir werden einander nie belügen und nie etwas vor dem anderen verbergen. So ist unsere Vereinbarung. Wir wollen eine ganz neue Art von Beziehung führen, mit völlig anderen Regeln. Wir sind Existenzialisten. Das heißt, man kann seine Freiheit nur verwirklichen, indem man eigenständig handelt und neue Wege geht.

In den ersten Tagen besichtige ich New York allein, diese unglaubliche Stadt. Am meisten beeindruckt mich die Stille der Straßen voller Gewimmel, die Autos, die geräuschlos dahingleiten, kein Hupen, und die Leute, die wenig reden, wenig lachen. Das ist erstaunlich im Vergleich zu Paris.
Ich habe noch nicht realisiert, dass ich Sartre drei Monate lang nicht sehen werde. Ich denke auf meinen Spaziergängen dauernd an ihn. Es ist, als ob er noch mit mir reden würde.
Dann verabrede ich mich ausrechnet mit der Vanetti, die sich auf ihren Flug vorbereitet: nach Paris, zu ihm. Wir sind beide nervös und trinken einen Whisky nach dem anderen. Ich kann Sartre verstehen, dass er für diese reizende Frau Gefühle hat. Sie ist vielleicht etwas ‚zu sehr Weib’, aber wenn man ein Mann ist, kann man wohl niemandem begegnen, der passender wäre. Trotzdem haben wir uns eigentlich nichts zu sagen.

Nach zwei Wochen beginnt meine Vortragstour. Ich fahre zuerst nach Chicago. Diesmal habe ich keine Lust, die Stadt allein zu erkunden.
Der Bund zwischen Sartre und mir sagt auch: Zwischen uns gibt es die notwendige Liebe, aber auch – wie er es bezeichnet hat – die kontingente Liebe, die Zufallsliebe.
Für Chicago habe ich die Adresse eines Schriftstellers bekommen, Nelson Algren. Ich rufe ihn an. Wir treffen uns am Abend. Es erscheint ein stattlicher Amerikaner, des Typs, vor dem ich in Paris gewarnt wurde: Groß, blond, selbstbestimmt. Er führt mir die Stadt vor, wie sie seiner Art entspricht, mit ihren schäbigen Kneipen, wo ständig eine Jukebox dröhnt, Striptease-Clubs, Jazzlokalen voller Schwarzer.
Ich habe nicht viel Zeit und am nächsten Tag verabreden wir uns gleich für den Nachmittag. Er zeigt mir auch seine Wohnung, in der es nur das Wesentliche gibt: Bett, Ofen, Tisch, Schreibmaschine, auch ein Sofa. Auf dem liegt eine hübsche bunte, mexikanische Decke, die ich gern über uns beide ziehen würde. Aber wir gehen wieder aus, ziehen durch sein Viertel, wärmen uns in einer Bar, auch wieder mit Whiskey. Zum Abschied bestellt er mir ein Taxi und küsst mich. Wir wollen uns unbedingt wiedersehen.
Danach fahre ich weiter nach Los Angeles. Die Vorträge und Gespräche sind anstrengend, schon deswegen, weil meine Zuhörer kaum Französisch verstehen. Aber ich werde gut bezahlt und kann ausschweifend leben. Ich bin in verschiedenen Städten, in Kalifornien, Texas, Florida, werde herumgereicht und bin ständig in Gesellschaft.

Erst Mitte April bin ich in New York zurück und freue mich nun sehr auf meine Rückkehr nach Paris, die erst für den 10. Mai gebucht ist.
Sartre schreibt mir, wie sehr er sich auf mich freut. Er wird mich am Flughafen abholen. Ich kann es kaum erwarten, ihn wieder zu berühren und mit ihm zu sprechen. Ich vertraue ihm rückhaltlos. Wie einst meine Eltern, wie einst Gott, gibt er mir das Gefühl unbedingter Sicherheit. Immerhin hat er durch unseren Bund sein höchstes Gut aufgegeben, seine Unabhängigkeit.
Am 3. Mai trifft aber ein Telegramm von ihm ein: Mit der Vanetti sei es gerade schwierig. Ob ich nicht eine Woche später fliegen könnte ...
Mir geht es in den nächsten Tagen sehr schlecht. Trotzdem: Ich bin selbstbestimmt. Gefühle kann man beherrschen. Ich will gerade nicht an Sartre denken, nicht die ganze Zeit. Ich bin nicht eifersüchtig, nein!
Ich habe Nelson Algren nicht vergessen, im Gegenteil: Wir haben uns regelmäßig geschrieben. So beschließe ich, ein paar Tage zu ihm nach Chicago zu kommen. Er empfängt mich am Flughafen und freut sich sehr, mich zu sehen. Wir verbringen den Tag gemeinsam, gehen in ein Café, zu einem Baseballspiel, in ein Bowling-Center. Im Hotel kommt er aber nicht mit auf mein Zimmer.
Wir treffen uns wieder und ziehen abermals durch Jazzbars, ehe er mich in einem Taxi endlich küsst. Wir sind dann bei ihm in seiner billigen Wohnung, unter der mexikanischen Decke, und wir schlafen erst ein, als der Vogelruf der Morgenfrühe hereindringt.
Als ich wieder nach New York muss, kommt Algren mit, und wir haben noch ein paar Tage für uns.

Endlich kehre ich nach Paris zurück. Doch Sartre ist distanziert. Leider ist die Vanetti immer noch da. Sie will, dass er sie heiratet.
Nein, ich definiere mich nicht über Sartre oder über irgendeinen Mann. Ich handele selbst.
Ich fahre aufs Land, um dort meine Erlebnisse in Amerika literarisch zu verarbeiten. Ich denke an Algren, der für mich unerreichbar ist, auf der anderen Seite des Atlantiks, und muss viel weinen. Fast täglich schreibe ich ihm.

Erst im Juli bringt Sartre die Vanetti aufs Schiff nach Le Havre. Seine Stimmung hellt sich danach nicht auf. Er brütet vor sich hin.
Ich beschließe, im September wieder in die USA zu fliegen: zu Algren nach Chicago.
Wieder sind die Tage mit ihm fantastisch. Ich genieße das Leben in vollen Zügen. Er will mich heiraten. Aber das geht natürlich nicht. Ich versuche, ihm meine Gefühle zu erklären, dass ich ihn nicht stärker lieben, begehren und vermissen könnte, als ich es tue.

Als ich danach in Paris zurück bin, ist Sartre wieder für mich da, obwohl er sich auf eine andere Frau eingelassen hat, aber nicht mehr auf diese Vanetti, die zuviel von ihm wollte.
Ich schreibe mein Buch über Amerika zu Ende und mache mich dann an das Werk, das etwas ganz Einmaliges werden soll: Ein Buch über die Lage der Frau in Geschichte und Gesellschaft. Denn inzwischen komme ich zu ganz neuen Erkenntnissen: Der Mann begreift sich als den Normalfall – dagegen erscheint die Frau geradezu als anderes Geschlecht. Der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern nur im Vergleich zu sich selbst. Weiblichkeit ist also nicht von Natur aus vorgegeben, sondern von außen gemacht, festgelegt durch den Mann.
Ich arbeite unermüdlich daran, damit ich danach freie Zeit habe. Die will ich mit Algren verbringen, vier Monate, von Mai bis September. Ich habe das genau mit Sartre besprochen. In der Zeit will nämlich Dolores Vanetti doch wieder nach Paris kommen.
Als alles geplant ist, meldet sich aber die Vanetti: Für sie würden die Bedingungen nicht mehr stimmen. Sie wird nicht kommen.
Das bedeutet: Sartre hätte wieder mehr Zeit für mich.
Ich beschließe daher, die Zeit mit Algren auf zwei Monate abzukürzen. Das will ich ihm aber nicht gleich sagen, damit wir unbeschwert sein können.

In den USA mache ich mit Algren eine herrliche Reise, auf dem Mississippi, weiter bis nach Mexiko. Ich organisiere die Tage, er die Nächte, so habe ich es ihm vorgeschlagen.
Erst am Ende unserer Reise teile ich Algren mit, dass ich doch vorzeitig nach Paris zurück muss. Er ist wie vor den Kopf gestoßen und geht auf Distanz. Ich will alles genau mit ihm besprechen, wie meine Situation ist: Sartre braucht mich. Ich bin der einzige Mensch, der ihn wirklich versteht. Er hat alles für mich getan, hat mir geholfen zu leben, mich zu finden. Ich könnte ihn zwar für mehr oder weniger lange Perioden verlassen, aber nicht mein ganzes Leben an jemand anderen binden.
Aber Algren hat keine Lust, überhaupt noch zuzuhören. Den Rückflug kann ich kaum ertragen: Ist nun alles mit ihm verdorben?

Wieder in Paris, bin ich dann wie vor den Kopf gestoßen. Dolores Vanetti will nun doch kommen und sie will mit Sartre nach Südfrankreich reisen. Er stimmt zu. Deswegen möchte er mir aber einen Flug nach Chicago bezahlen. Ich gehe darauf ein, freue mich sofort wieder auf Algren und schicke ihm ein Telegramm: Ob ich gleich wieder zu ihm kommen könnte, für einen ganzen Monat.
Er antwortet ebenfalls mit einem Telegramm, aber darin steht nur: „Nein. Zuviel Arbeit.“

Simone de Beauvoir (1908–1986) steht wie keine zweite moderne Persönlichkeit für den Feminismus. Sie war diejenige, die nicht nur theoretisch die Gleichberechtigung der Frau vorangetrieben hat. 1947 erschien ihr Buch Das andere Geschlecht. Darin untersucht sie unter vielen Aspekten die Lage der Frau in Abhängigkeit von der des Mannes.
Doch auch praktisch brach sie mit den bürgerlichen Normen, nämlich als Freund von Jean-Paul Sartre (*1905 +1980), dem Philosophen des sogenannten Existenzialismus. Er vertrat die These, dass der Mensch nichts anders sei, als wozu er sich macht. Erst durch das eigene Handeln entwickele sich das eigentliche Individuum und der eigentliche Charakter.
Die beiden vereinbarten schon als junges Paar einen Pakt: Ihre Liebe sei zwar unzerstörbar, aber es dürfte nebenher andere Verhältnisse geben. Denn ihr Bund biete keinen Ersatz für den flüchtigen Reichtum der Begegnungen mit anderen Wesen. „Warum sollen wir freiwillig auf die Skala der Überraschungen, der Enttäuschungen, der Sehnsüchte, der Freuden verzichten, die sich uns anbieten?“, schreibt de Beauvoir. Dabei würden sie immer ganz offen und ehrlich zueinander sein und somit wahrhaftig bleiben.
Man könnte den Pakt der beiden auch so deuten, dass sich Sartre damit die Freiheit verschaffte, ständig neue junge Frauen zu verführen, was er geradezu wie besessen tat. Dabei war die Beziehung der beiden bald nur geistig: Sie bedeuteten sich körperlich nichts mehr, wohnten auch nie zusammen, mussten sich immer neu verabreden. Ein Leben lang siezten sie sich. Trotzdem beschrieben sie sich seitenlang ihre jeweiligen Erlebnisse und Affären, besonders Sartre, der kein Detail ausließ.
Das Leben der beiden galt später vielen in der „68-Zeit“, als besonders die Studenten für eine neue Gesellschaftsform kämpften, als vorbildlich. Es sollte Liebe ohne Vertrag geben, also keine Ehe, und Sexualität sollte „frei“ sein, also ohne irgendwelches „Besitzdenken“.
Simone de Beauvoirs Beziehung zu dem amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren (*1909 +1981) hat ihre Prinzipien vielleicht am schwersten erschüttert. Mit ihm erlebte sie eine tiefe Befriedigung und sie schrieb ihm Hunderte ergreifender Liebesbriefe. Aber wegen ihres Pakts mit Sartre blieb das Verhältnis brüchig. Algren wandte sich schließlich von ihr ab. Einen Ring allerdings, den er ihr zur symbolischen Hochzeit schenkte, nahm sie ihr Leben lang nicht mehr ab und nahm ihn sogar mit ins Grab.

Hauptwerk des Feminismus

Das andere Geschlecht gilt als eines der einflussreichsten Bücher der Welt. Es hat der Frauenbewegung einen ganz eigenen Impuls gegeben. Geschrieben ist es eigentlich im Geist des Existenzialismus: Wer in seinem Leben auf dem beharrt, was er hat, kann nicht frei werden. Für die Frau bedeutet das, sich ihr Leben nicht vom Mann bestimmen zu lassen, der ständig bereit ist, die Grenzen zu überschreiten. Daher muss auch die Frau bereit sein, neue Wege zu gehen. Sonst erstarrt sie zum Objekt und wird in ihrer Existenz vom Mann bestimmt. Philosophisch liest sich das so: Die Frau soll zur Immanenz verurteilt sein, da ihre Transzendenz fortwährend von einem essentiellen, souveränen anderen Bewusstsein transzendiert wird, nämlich dem des Mannes. Praktisch leitete Simone de Beauvoir daraus eine ihrer wichtigsten Thesen ab: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“

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