Startseite > Schniederlihof > Der zivilisatorische Fortschritt

Der zivilisatorische Fortschritt

Das Leben heute und damals

Freitag 26. Januar 2024, von Andreas Venzke

Man wacht auf und muss erst mal auf dem Smartphone schauen, ob China Taiwan angegriffen, Bayern München seinen Trainer entlassen oder die X-Aktie, in die man nach langem Zaudern doch investiert hat, weil man im Leben auch mal was wagen muss, über Nacht weiter an Wert gewonnen hat. Das checkt man den ganzen Tag über immer mal wieder ab.

Man wacht auf und denkt an den einen der beiden Hähne. Der ist ein halbes Jahr alt und wird heute geschlachtet. Das ist keine schöne Arbeit, besonders nicht das Rupfen und Ausnehmen. Aber zum Abend (z’Obe) wird es dann, und auch morgen und übermorgen, eine herrlich schmeckende Suppe geben. Alles andere, wie das Buttern, das Backen, das Beten, ist heute kaum einen Gedanken wert.


Man geht nach dem Aufstehen ins Bad, setzt sich (auch als Mann) auf die Klobrille und schlurft danach in die Küche, wo man sich per Knopfdruck einen Kaffee macht.

Man geht nach dem Aufstehen zum Herd und findet zum Feueranmachen wirklich noch ein wenig Glut in der Asche. Dann brunzt man, je nach Laune, Wetter und Jahreszeit, draußen oder im Stall, trinkt ein Glas Wasser und melkt die Kühe und Ziegen.


Man geht zum Kühlschrank und nimmt sich sein gesundes und super einfach zubereitetes Frühstück, heute mal in Soja- oder Kokos-, zur Not auch in Hafermilch eingelegte Chiasamen, reich an Mineralien und Omega-3-Fettsäuren, verfeinert mit Ahornsirup, jedoch nur vom Typ A, am besten sogar AA vom ersten Anzapfen, zerdrückten Bananen und dazu Kakao oder auch original Vanille-Extrakt.

Man geht im Sommer nach dem Melken zum ersten Frühstück (z’Morge). Das wird aus einer Schüssel gemeinsam gelöffelt und besteht meist aus Mehlsuppe oder Haferbrei (Habermus), gesottenen Erdäpfeln und entrahmter Milch. Im Winter muss das Melken warten, bis bei Sonnenaufgang das erste Licht in den Stall fällt.


Man tritt im Winter nach schneereicher Nacht vor das Haus, und alle Straßen sind geräumt, nur der Fußweg noch nicht, weil die Hausverwaltung mal wieder ihren Aufgaben nicht nachkommt und alle Nachbarn meinen, das bisschen Schnee würde sowieso schnell wegschmelzen.

Man tritt nach schneereicher Nacht vor das Haus. Alle Wege sind tief von Schnee bedeckt. Von dem vielen kalten Weiß geht eine seltsame Ruhe aus, wie Schutz und Gefahr zugleich. Man bleibt im Haus. Wer doch unterwegs sein muss, kommt gut mit Schneeschuhen oder, ab den 1890er Jahren, auf Skiern vorwärts.


Man schaut im Sommer auf dem Smartphone nach dem Wetter und weiß, dass es leider bald regnen wird und man dann nicht Fahrrad fahren kann und die Straßenbahn nehmen muss, oder sogar das Auto.

Man schaut nach Federwolken am Himmel und nach dem Barometer und nach dem Flug der Schwalben und weiß, dass es leider bald regnen wird und man dann wieder nicht mit der Heuernte beginnen kann.


Man geht an einem normalen Arbeitstag, sommers wie winters, zur Straßenbahnhaltestelle und grüßt dort niemanden, auch nicht auf dem Weg dorthin, besonders nicht die blöde Nachbarin.

Man geht sommers an jedem Tag frühmorgens mit der Sense zum nahen Feld, um Klee zu mähen, und begrüßt jeden auf dem Weg, wenn überhaupt jemand unterwegs ist. Wenn man den Nachbarn trifft, erinnert man ihn kurz daran, dass er das Quellwasser, wie von dem Richter bestimmt, erst nächste Woche wieder für seine Weiden benutzen darf.


Man fährt winters nach Fernsehen oder Wirtschaft und einer unruhigen, wieder mal enthaltsamen Nacht mit anderen, fremden Arbeitern in den Wald und fällt von den markierten Bäumen, darunter auch vielen alten, noch gesunden Fichten, einen nach dem anderen.

Man geht bei abnehmendem Mond winters nach bewusst enthaltsamer Nacht mit Axt, Keil und Baumsäge in den Wald und fällt mit den anderen Hofbauern einen Baum, den man dann zersägt. Als Holzfäller ist man ausgeschlafen und gerade von allen Frauen rein, damit das Holz nicht wurmstichig wird.


Man hat sich beim Hochheben der Kiste Bier einen Bruch gehoben und lässt sich auf Drängen der Frau von ihr zum Krankenhaus fahren, wo sie alles viel zu umständlich mit den Ärzten bespricht, die einem dann aber den Bauchraum schnell wieder verschließen.

Man hat sich beim Anheben des Heuwagens einen Bruch gehoben. Fortan muss man mit einem Bruchband leben.


Man nimmt sein Smartphone, klickt auf seine Bankverbindung und stellt mit Erschrecken fest, dass in den letzten Tagen nur abgebucht wurde, Miete, Strom, Hauskosten, Telefon, Steuervorauszahlung, Kontogebühren, Lebensversicherung, Hausratversicherung, Haftpflichtversicherung, Autoversicherung, schon wieder teurer, obwohl kein Unfall, seit Jahren nicht, Rechtschutzversicherung, Zahnversicherung, Kreditkartenbelastung, Zeitungsabo, obwohl man das schon lange kündigen will, Müllgebühren, die ETF-Sparrate für das Kind, Rundfunkbeitrag, wie die das nennen, den man ja leider nicht kündigen kann, Kfz-Steuer, Handygebühr, und dass das Konto im Minus ist.

Man geht zu seinem Geldversteck und legt wieder einige Batzen hinein. Einmal im Jahr fordert das Kloster als Grundherr ein paar Schilling und dazu eine Fasnachtshenne als Bodenzins.


Man fliegt in den Ferien mit seinen Kindern nach Bangkok, von dort weiter an viele schöne Orte in Indonesien, wo man Elefanten streicheln, mit Mantarochen tauchen und die Gastfreundschaft der lustigen kleinen Leute genießen kann. So können die Kinder schon früh etwas über die Schönheit, Vielfalt und Einzigartigkeit der Welt erfahren, die leider durch uns Menschen so bedroht ist. Den Hinweis darauf, dass die Reise pro Person zu einem CO2-Ausstoß von 5000 kg führt, während ein klimaverträgliches Jahresbudget eines Menschen 2300 kg CO2 beträgt und beispielsweise ein Kenianer im Schnitt 330 kg CO2 im Jahr verbraucht, verbittet man sich als übergriffig.

Man tritt zur Verlobungsfeier der Tochter eine Reise bis hinab ins ferne Münstertal an. Dass der Anteil an der Großen Zehrung mit dem Verkauf vieler vieler Bäume bezahlt wurde, die nur noch in weiter Entfernung gefällt werden können, muss man keinem erzählen. Und dass eine Fichte in hundert Jahren Wachstum die enorme Menge von 2500 kg CO2 bindet, hätte damals so wenig interessiert wie heute.


Man geht aus dem Haus und hat sorgfältig darauf geachtet, dass alle Fenster und Türen verschlossen sind. Die Haustür schließt man besonders sorgfältig ab und kontrolliert auf dem Smartphone, ob darauf das Bild der Überwachungskamera erscheint.

Man geht aus dem Haus und zieht die Haustür zu.


Man macht alle drei oder vier Tage den Einkauf, manchmal, wenn man Zeit hat, gern auch öfter, setzt sich ins Auto und fährt all die Läden an, wo es Fleisch, Butter und Milch jeweils am günstigsten gibt.

Man macht einmal im Monat den Einkauf und geht mit dem Rucksack einen oder zehn Kilometer in den nächsten Laden. Dort gibt es Mehl, Kernseife und Streichhölzer zu einem festen Preis.


Man ist nicht zuhause, als der Akku des E-Bikes durchgeht, der Rauchmelder zwar anschlägt, aber niemand ihn hört, und das Haus zu brennen anfängt. Die Feuerwehr ist umgehend vor Ort und löscht den Brand mit so viel Wasser, dass der Keller vollläuft. Den gesamten Schaden übernimmt die Versicherung, die einem leider nicht die selbstgemalten Aquarelle ersetzt.

Man ist zuhause, als der Schornstein, den man behördlicherseits einbauen musste, zu brennen anfängt. Das Feuer breitet sich rasend schnell aus und ist unlöschbar. Der ganze Hof brennt nieder. Alle im Dorf helfen beim Wiederaufbau.


Man hat starke Zahnschmerzen, fährt zu einem Zahnarzt und lässt sich als Notfall behandeln. Danach lässt man sich krankschreiben und legt sich mit einem Schmerzmittel ins Bett.

Man hat starke Zahnschmerzen. Man ruckelt wieder mal an dem entzündeten Zahn und ist froh, wenn man ihn endlich herausbrechen kann. Danach spült man den Mund mit einem großen Schluck Kirschwasser aus und macht weiter Schindeln am Schniedesel.


Man spürt den Trieb des Mannes und weist ihn von sich, wenn er macht, wie es einem nicht gefällt.

Man spürt den Trieb des Mannes und lässt sich den Rock von hinten hochheben. Man erduldet, was der Hausherr dann mit einem macht.


Man kann selbst entscheiden, wann man Kinder haben möchte, und man kann sogar entscheiden, keine Kinder haben zu wollen, weil einem die Kindererziehung viel zu nervenaufreibend erscheint und man stattdessen lieber dreimal mehr im Jahr Urlaub macht.

Man kann nicht selbst entscheiden, wann und ob man überhaupt Kinder möchte. Kinder entstehen von Natur aus und sind wichtig für das Überleben der Eltern im Alter.


Man läuft von der Kirche in Hofsgrund, wo man ausnahmsweise mal parkt, fast einen ganzen Kilometer bis zum Schniederlihof und hat sich so verausgabt, dass man am Kiosk zur Stärkung erst einmal zu essen und trinken bestellt. Leider muss man noch anstehen, kann nicht mit Karte bezahlen, und das Weizenbier ist auch aus.

Man läuft als Bauer oder Bäuerin mit der Krätze voller Käsle nach Freiburg, verkauft diese auf dem Münsterplatz und läuft am Abend mit der Krätze voller Mehl, Zucker und Salz zurück zum Schniederlihof. In der Nacht kommt man dort an, nach über 30 km Fußmarsch mit 1000 m Höhenunterschied. Man freut sich, dass in der Küche noch altes Brot und frische Milch zu finden ist.


Man macht zu Mittag für die Familie Essen, kocht dafür 500 Gramm Spaghetti, dünstet eine halbe Zwiebel und eine Knoblauchzehe, gibt passierte Tomaten dazu, stellt noch fertig geriebenen Parmesan auf den Tisch, serviert in zehn Minuten, während man noch die Nachrichten auf dem Smartphone checkt, und steckt danach einen Pappkarton mit Sichtfenster, eine innen beschichtete Konservendose und einen Plastikbeutel in den Gelben Sack. Die Zwiebel- und Knoblauchschalen und was die Kinder wieder nicht gegessen haben, wirft man in den Biomüll. Man verhält sich umweltbewusst.

Man kocht z’Middag einen großen Topf Pellkartoffeln (Gschwelldi) und serviert die mit Butter, Käsle und Kraut. Übrig bleiben nur Kartoffelschalen. Die kriegt das Schwein.


Man muss mal, also mal groß, das große Geschäft machen, austreten, die Notdurft verrichten, mal verschwinden … und spült danach seine Fäkalien mit Wasser auf Knopfdruck in ein Kanalsystem, das in einem viele Kilometer entfernten Klärwerk mündet, wo aus allem, was dort ankommt, fast wieder reines Trinkwasser gewonnen wird.

Man muss scheißen oder kacken. Das macht man, je nach Laune, Wetter und Jahreszeit, entweder auf der Wiese, im Stall oder in den Kübel, den man als Dünger über dem Misthaufen entleert, später auch im Stillen Örtchen.


Man will irgendeine Musik hören, klickt sie auf dem Smartphone an und hört sie mit Ohrhörer in der Familie. Der gibt man zu verstehen, dass man trotzdem versteht, was gesprochen wird – wenn gesprochen wird.

Man spielt mit der Familie auf dem eigenen Instrument die Lieder, die alle seit jeher spielen.


Man drückt egal wo im Haus auf einen Schalter, und das Licht geht an, das einem aber viel zu kalt vorkommt.

Man nimmt einen neuen Kienspan, entzündet den entweder am gerade erlöschenden Kienspan oder an der Glut im Küchenherd und hat wieder für zehn Minuten (ein) rauchendes Licht.


Man geht zu einer Hochzeit, und am Abend, man glaubt es nicht, besaufen sich einige Gäste regelrecht.

Man geht zu einer Hochzeit, und alle besaufen sich, von morgens bis abends.


Man stellt fest, dass die Oma nicht mehr allein leben kann und gibt sie in ein viel zu teures Altersheim, das leider auch – weil nicht nur unser Gesundheitssystem heruntergewirtschaftet worden ist – die eigenen Ersparnisse aufbraucht.

Man vereinbart mit der noch rüstigen Oma ein Leibgeding. Sie übergibt den Hof an den jüngsten Sohn. Der muss sie dafür lebenslänglich in Speise und Trank in gesunden und kranken Tagen in Kalt und Warm erhalten.


Man streitet seit Jahren mit den Nachbarn, weil von deren Baum die mickrigen und wurmstichigen Äpfel und dann noch das Laub in den eigenen Garten fallen.

Man streitet seit Jahren mit den Nachbarn, weil die heimlich, man weiß nicht wie, das Quellwasser aus dem Berg auf die eigenen Weiden und Matten leiten.


Man bringt die kranke Katze zum Tierarzt, der bei dem alten Tier eine chronische Niereninsuffizienz feststellt. Mit Blick auf seine bescheidenen Einkünfte offeriert der Arzt der weinenden Halterin, die sofort sein ganzes Vertrauen gewinnt, eine Bluttransfusion. Sie schreibt deswegen in den Sozialen Medien: „An alle KatzenbesitzerInnen!!! Es wird sehr dringend nach Blutspenden für die Katze Mia gesucht. Ihre Blutgruppe: A. Handy: xxx xxx xxx xxx. Bitte umgehend melden!“

Man lässt die kranke Katze in Ruhe und tut ihr nichts. Eines Tages ist sie nicht mehr da.


Man kommt im Winter abends aus dem Fitness-Studio, wo man sich seit Tagen quält. Trotzdem schmerzt weiterhin der Rücken, und man fragt sich, warum man deshalb so geplagt ist. Die Kollegen und Kolleginnen haben zwar auch alle Rücken, aber noch keiner hatte einen Bandscheibenvorfall.

Man kommt im Winter bei Dunkelheit aus dem Bergwerk, wo man das erzhaltige und taube Gestein aus den Stollen räumt. Es schmerzt der Rücken, und man freut sich, wenn man sich an der frischen Luft wieder richtig aufrichten kann. Man geht aber schon ganz krumm.


Man setzt sich als Frau aufs Sofa und sucht auf dem Smartphone nach einer hübschen neuen Jacke. Nach einer Stunde bestellt man gleich mehrere, die alle nach Hause geliefert werden. Die beste wird man behalten und die übrigen zurückgeben, die eingesammelt, zu einer Abfallzentrale transportiert und dort vernichtet werden.

Man setzt sich als Frau im Spätherbst abends ans Spinnrad. Die gesponnene Wolle dreht sich wie von Geisterhand als Faden auf die Spule, während man selbst erzählt oder den Männern zuhört, die sich am Ofen faul hingestreckt haben. Die in Wochen versponnene Wolle wird dann hoffentlich für eine neue warme Jacke reichen.


Man geht ins Bett, liest als Frau noch in einem Liebesroman, studiert als Mann noch auf dem Tablet die Fußballnachrichten, macht dann das Licht aus und wälzt sich herum und kann nicht einschlafen.

Man geht ins Bett, lässt den Kopf vorsichtig auf das kalte, eiskalte oder gefrorene Kissen sinken und schläft gleich ein.