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Kap. 1-5, I-IV, 6-10

Montag 30. März 2020, von Andreas Venzke

Andreas Venzke: Wilkes Tag

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Andreas Venzke/Wilkes Tag (2020)

 

1. Irgendwas mit Voice over IP

Ich, Wilke, überlege: „Willke“ hat der da gestern zu mir gesagt! So einer, der bestimmt in den Tag hineinlebt, sich nur treiben lässt, sich keinen einzigen eigenen Gedanken macht. Ich habe ihn sofort korrigiert, sofort! Aber der wiederholte das am Telefon noch ein paar Mal, als wäre der begriffsstutzig.
Für die meisten plätschert eben alles nur so dahin! Als könnte man nicht ganz leicht mal ein paar Steine aufschichten und das Wasser umleiten. Man kann doch selbst gestalten! Man kann doch auch mal zuhören!
Dieser Anruf hat mich ziemlich beschäftigt. Sonst ruft ja kaum noch jemand an, also normal, am Telefon. Alle chatten nur noch, oder twittern oder ... na ja, whatsapp, das mache ich inzwischen auch. Als ob ich sowas nicht könnte!
Ich heiße Wilke, für den von gestern: Herr Wilke bitteschön, gesprochen „Wihlke“, und bestimmt nicht „Willke“, worauf ich Wert lege. „Willke“ sagen meistens die, die sowieso kein Empfinden für die deutsche Sprache haben. Ist so ein Telefonfritze nicht angehalten, gut zuzuhören – wenn schon das Deutsch zu wünschen überlässt? Aber selbst nachdem ich noch einmal laut gesagt hatte, „Ick heiße Wilke“, hat der nur geantwortet: „Ich verstehe, Herr Willke.“
Ich habe es dann gesteckt, den noch einmal zu korrigieren. Bei dem hatte es einfach keinen Sinn, auf der richtigen Aussprache meines Namens zu bestehen. Man muss halt der Welt manchmal ihre Not lassen. So wie dem am Telefon, der bestimmt nichts gelernt hat und deswegen eine solche Arbeit machen muss, bei der es doch trotzdem auf Sprache ankommt oder gerade auf Sprache. Der würde vielleicht „Gras“ noch „Grass“ aussprechen, wobei das mit dem ja wieder seine eigene Bewandtnis hatte: Schon dass der in seinem Namen das gute alte SZ zu Doppel-S geändert hat, geradezu symbolisch, wie er auch sonst seine Vergangenheit ... Aber das auch noch gedanklich zu fassen, würde gerade zu weit führen. Ist ja alles schon so lange her. Da ist nun auch Gras drüber gewachsen ... Ich freue mich über diesen kleinen Kalauer, den aber bestimmt keiner schätzen würde, meine Frau zumal nicht, wie so vieles.
Gute Schriftsteller haben die Deutschen ja auch keine mehr, hatten sie vielleicht auch nie, Goethe mal ausgenommen, auch Brecht, durchaus auch Brecht: Mal abgesehen davon, wie der sich politisch verirrt hatte – der hatte noch ein Gespür für Sprache, für die deutsche Sprache, für gutes Deutsch. Wiederum hatten die ja auch nur eine Bedeutung, weil man damals noch irgendwie darauf gehört hat, was solche Künstler sagen. Heute löst sich ja alles im Einheitsgeplapper auf. Wer bleibt denn da noch standhaft? Ich selbst, als einer der wenigen, auf den aber auch keiner mehr hören will, meine Frau vorweg.
Wie mein Name so gesprochen wird – was habe ich daran schon alles feststellen können! Wie sich die Leute überhaupt so ausdrücken! Wer kann denn noch richtig Deutsch? Da wollen sie die Sprache verändern und damit natürlich gleich das Denken, diese Gleichheitsapostel, und schreiben: MitgliederInnen wie dieser eine Auszubildende damals bei mir im Betrieb. Und als ich ihn auf seinen Fehler aufmerksam gemacht hatte, korrigierte der das grinsend und schrieb: Mitglieder und Mitgliederinnen. Da habe ich laut aufgelacht, was heute natürlich gar nicht mehr geht. Vielleicht hatte ich sogar Glück, dass der deswegen nicht den Betriebsrat oder die Gewerkschaft eingeschaltet hat. Zum Glück bin ich da jetzt raus. Heute würde dieser Auszubildende, der jetzt wahrscheinlich selbst ausbildet, das bestimmt mit Sternchen schreiben.
Wie soll man denn diesen Leuten die Feinheiten der Sprache näherbringen? Sie kennen ja nicht einmal die Regeln! Doch all das lohnt nicht, es sich jetzt so vor Augen zu führen. Man muss sich ja beschränken und auf den Punkt kommen, wie manche das nie verstehen werden, vor allem nicht solche des weiblichen Geschlechts. Aber auch das lohnt jetzt nicht ...
Und den am Telefon habe ich dann seinen ganzen Sermon herunterbeten lassen, irgendwas mit Voice over IP, was mir sowieso zu viel war – zu viel, nicht zu hoch! Wie können die nur so mit den Technikbegriffen um sich schmeißen? Protokolle, Gateways, Service Provider! Soll man davon als Kunde beeindruckt sein? Ich will nur weiter ganz normal telefonieren können.
Das habe ich dem noch gesagt – und hinzugefügt, dass ich selbst über mein Telefon bestimme und mit wem ich spreche und dass ich es im Grunde auch gar nicht nötig habe ...
Da hat mich dieser Fritze doch unterbrochen und ziemlich langsam gesprochen und gesagt, sie als Telefongesellschaft müssten einen Anschluss für jeden Kunden herstellen, auch wenn sich das bei manchen nicht wirklich lohnen würde.
Nicht wirklich! Da musste ich mich wirklich sehr beherrschen, dem nicht wirklich die Meinung zu sagen. Nur hat der dann auch wieder angefangen zu sprechen wie ein Automat, immer höflich, immer sehr höflich, dass nun mal das ganze System umgestellt werden muss, aber dafür alles schneller ... und die Übertragungsgeschwindigkeit ... und die neue Technik ... so viel besser, Herr Willke!
Da habe ich nur noch geantwortet: „Dann tun Sie halt! Sie können ja gar nicht anders.“
Für einen Moment war er tatsächlich still, ehe er noch sagte: „Das tue ich dann also, Herr Wolke!“
Er selbst hat dann aufgelegt, noch ehe ich das tun konnte.
Mich hat das durcheinandergebracht, weil das doch eigentlich nicht den Gepflogenheiten entspricht. Der Kunde hat doch das Gespräch zu beenden. Und dass er sagte: Herr Wolke ...
Ich mache die Augen auf und rufe zu meiner Frau in der Küche: „Weißt du, der gestern am Telefon, der kann doch nur das machen, was ihm gesagt wird. Und wenn der von der Arbeit kommt, lebt der bestimmt nur so in den Tag hinein. So einer weiß natürlich immer, was er sagt und tut ...“
„Na, bist du jetzt wach?“, ruft meine Frau zurück. „Dann steh mal auf, damit das ein besonderer Tag wird.“
Ich stutze und merke, wie mein Puls ansteigt. Was will sie mir denn damit sagen? Als hätte ich so lange geschlafen! Das kann ich doch mal! Schließlich bin ich jetzt in Rente.
Dann ruft sie noch: „Und jetzt vergiss mal den vom Telefon! So wichtig ist das doch nicht.“
Da muss ich mich sehr beherrschen, meine Laune nicht zu verlieren, die doch eigentlich gut ist – zumindest war. Ich sehe den neuen Tag vor mir, mitbestimmt von meiner Frau, sonst nichts. Plötzlich sehe ich eine große Leere vor mir.
Doch dann durchfährt es mich so, als wäre es fast eine Eingebung: Ein besonderer Tag! Das ist es! Ein ganz besonderer Tag, ein wirklich besonderer! Das nehme ich mir vor, einen ganz besonderen Tag zu erleben, besser gesagt, sich den Tag ganz besonders zu gestalten. Denn der Tag soll von mir abhängen, nicht ich vom Tag. Ich hänge von keinem ab. Ich doch nicht! Außerdem verbringe ich im Grunde immer besondere Tage. Der vom Telefon, dieser Willke-Sager, sollte das mal erleben können, wie man seine Welt gestaltet, wie man nicht nur das Wasser ist.
Und meiner Frau muss ich auch mal wieder zeigen, was sie überhaupt an mir hat.

 

2. Ordentlich frühstücken

Ich strecke den Rücken durch und nehme die entstehenden Schmerzen auf mich, wie ... fast wie Jesus, was vielleicht nur etwas übertrieben ist. Denn ich muss meine Schmerzen ja jeden Tag aufs Neue ertragen. Trotzdem halte ich sie aus. Als ob man sich immer beklagen müsste!
Dann drehe ich mich im Bett auf die Seite und werde nun erst einmal ordentlich frühstücken, mit Schrippen und Leberwurst. Mit Leberwurst habe ich zwar am Tag vorher auch gefrühstückt, und davor ebenfalls, doch hatte ich die Tage ja nicht besonders geplant. Deswegen hatte ich auch das Frühstück, und also die Schrippen und die Leberwurst, nicht als etwas Besonderes wahrgenommen.
Stöhnend richte ich mich auf und rufe: „Frau, warste schon einkaufen?“
Meine Frau ruft aus der Küche zurück: „Brötchen sind da, frische Leberwurst auch.“
Das macht mich nun aber wütend. Wie kommt sie dazu, einfach von sich aus Leberwurst zu kaufen? Als ob ich die jedes Mal zum Frühstück will! Ich esse zwar meistens Leberwurst zum Frühstück, aber nur deswegen, weil die nun mal da ist. Sonst aber kann ich wohl immer noch gefragt werden, ob ich Leberwurst haben will! Ich bin auch mit Mortadella zufrieden, oder einer anderen Wurst. Als ob ich mich deswegen so haben würde! Ich habe sogar schon so einen vegetarischen Brotaufstrich gegessen, den Corinna mitgebracht hatte, meine Schwiegertochter. Das schmeckte eigentlich ganz ähnlich, gar nicht so schlecht.
Vor allem soll meine Frau nicht über mich bestimmen und von sich aus Leberwurst kaufen.
So fängt der Tag schon mal nicht gut an.

 

3. Eine wirklich saubere Schnittfläche

Ich lasse die Beine aus dem Bett fallen. Ein erster Elan ist dahin. Ich drücke mich mit beiden Händen von den Knien ab und stelle mich auf. Mein Atem geht schwer, weil erst einmal der Kreislauf in Schwung kommen muss. Das ist bei einem Auto ja auch nicht anders, wenn die Batterie nicht mehr neu ist. Aber wenn der Motor einmal läuft, kann man trotzdem gleich losfahren.
Es fällt mir nicht mehr so leicht, meine Füße zu sehen, wenn ich stehe. Dabei sehe ich mir eigentlich gern meine Füße an. Die sind nicht platt und nicht gespreizt und modisch verformt, oder richtig: wegen der Mode verformt wie bei meiner Schwiegertochter, und sie sind überhaupt, nicht nur für mein Alter, schön.
Dass mein Bauch vorhängt, ärgert mich durchaus, aber ich werde den noch wegbekommen! Schließlich hat kaum einer so einen Willen wie ich. Vielleicht werde ich schon an diesem Abend damit anfangen und kein Bier trinken. Wiederum habe ich es nicht nötig, den Bauch sofort wegzubekommen. So sehr stört er mich nicht und ich kann damit warten, bis ich dann selbst knallhart entscheide: Ich will, dass der Bauch wegkommt, und also kommt er weg!
Als ich durch den Flur schlurfe, stoppe ich plötzlich. Meine Frau, die in der Küche das Frühstück macht, steht dort gerade im Türrahmen, Rücken zu mir. Sie ist anscheinend ganz in Gedanken versunken. Und ich grüße sie noch nicht, offiziell meine ich, weil mir Umgangsformen doch wichtig sind. Da will ich nicht nur durch den Flur rufend oberflächlich ein Guten Morgen wünschen. Das hat auch mit Respekt zu tun. Bloß wundere ich mich, wie meine Frau dort mit dem schweren Fleischmesser steht und es irgendwie abwägend betrachtet. Sie hat bestimmt in dem Messerblock danebengegriffen, denke ich und richtig: Plötzlich schreckt sie hoch und geht an ihren Platz in der Küche zurück.
Sie hat den Messerblock als Geschenk eigentlich auch nie zu schätzen gewusst. Was der gekostet hat! Und wenn sie nun das Fleischmesser in der Hand hatte, ist das im Grunde bezeichnend. Sie weiß eben immer noch nicht, was der Unterschied zu dem Brotmesser ist. Das hat ja eine ganz andere Klinge, nämlich eine gewellte. Damit hat man vor allem erst mal einen Ansatzpunkt, um beim Schrippenaufschneiden nicht abzurutschen. Außerdem bleibt durch den Wellenschliff nichts so leicht an der Klinge haften. So hat man eine wirklich saubere Schnittfläche. Aber auch hier habe ich es aufgegeben, ihr das auseinanderzusetzen. Die Küche ist nun mal ihr Bereich, ihre eigene Welt. Ich kann da höchstens mal Gast sein, zum Beispiel zum Abtrocknen, und als solcher geziemt es sich nicht, dem Gastgeber gute Ratschläge zu erteilen.
Ich räuspere mich kurz, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich nun aufgestanden bin, und gehe ins Badezimmer.
Sie ruft: „Mach nicht so lang!“
„Ja ja“, murmele ich nur. „Mach ich, mach ich nicht!“

 

4. Die mit den Nassrasierern

Ich stelle mich vor den Spiegel, schiebe mir mit gespreizter Hand kurz die Wangen nach oben und nehme mit verächtlichem Blick meinen Elektrorasierer. Natürlich könnte ich auch unrasiert frühstücken, wie das so viele machen. Nur fängt damit der allgemeine Verfall der Sitten schon an. Wenn man sich schon beim Frühstück gehenlässt, ruft man die Verwahrlosung geradezu herbei.
Ich rasiere zuerst die linke Wange, dann die rechte, das Kinn, dann die Partie über der Oberlippe, zum Schluss den Hals. Man muss das nach Plan machen, mit System. Dann geht es schneller, als wenn man einfach so ziellos im Gesicht herumfuhrwerkt. Ich muss die Haut ordentlich straffen und weiß, wieviel leichter ich mich früher rasieren konnte, als die Haut elastischer war.
Als wäre es ein Fluch, muss ich da wieder an Nassrasierer denken, von denen Ben, mein Herr Sohn, ja so schwärmt. Nur ist der eben auch ein Schönling, ein Stutzer, wie das früher noch hieß, im heutigen Neudeutsch ein geiler Typ – oder hip, ein hipper Typ? Von seinem Vater hat Ben das nicht, diese Attitüde, das Aussehen schon, und darüber kann er sich ja nicht unbedingt beschweren. Er sieht nun mal gut aus. Aber das mit dem Rasieren? Das hat er bestimmt nicht von mir.
Jedenfalls gefallen sich die mit den Nassrasierern doch alle in ihrer Männerrolle, wenn sie sich so mit dem Messer durchs Gesicht fahren! Die müssen sich damit jeden Morgen so männlich vorkommen! Vor dem Spiegel stehen, sich einseifen und sich immer schön ansehen, nein betrachten: Das passt zu Leuten wie meinem Herrn Sohn! Der macht ja auch immer wieder Selfies, von sich und seiner tollen Frau und dem tollen Kind. Da macht der doch das bestimmt auch die ganze Zeit allein.
All denen wird das aber auch irgendwann zu mühsam sein, sich jeden Morgen einzuseifen. Da kann mein Sohn noch so oft behaupten, dass es mit dem Nassrasieren viel schneller ginge! Ich werde ihm das beim nächsten Mal noch mal klar und deutlich sagen, und mich dabei bestimmt nicht aufregen, gar nicht. Und das richtig saubere Rasieren, mit dem Elektrorasierer, der nämlich nicht das Waschbecken verschmiert hinterlässt, lässt eben auch Zeit zum Nachdenken.
Es ist ja auch ein eigenes Thema, wie weit es mit dem Rasieren heute gekommen ist. Ganzkörperrasur – mehr muss dazu gar nicht gesagt werden. Steht denn nur noch das eigene Ich im Vordergrund, und nicht einmal das, sondern nur noch die äußere Form oder sogar nur die – Hülle? Kommt es denn auf gar keinen Inhalt mehr an? Natürlich passen da die Nassrasierer in die Zeit, nein, auch die modernen Elektrorasierer, die mit wet&dry-Funktion, wie sie das nennen, weil ja alle Deutschen so gut englisch sprechen, und einem Präzisionstrimmer. Damit können noch irgendwelche Linien in den Bart gezogen werden. Mein Herr Sohn würde das bestimmt auch an sich machen, wenn er einen Bart trüge. Warum muss jemand darauf Wert legen? Warum denkt niemand weiter?
Ich ziehe eine Stelle am Hals noch einmal nach, wo ich einen Wirbel habe, der schlecht anzugehen ist. An solchen Stellen würde das Nassrasieren besonders gut funktionieren, hat mein Sohn gesagt, und besonders, wenn die Haut nicht mehr so elastisch ist. Nicht mehr so elastisch! Ich nehme so einen Spruch hin als Vater, was soll ich machen? Obwohl es wirklich dreist ist, sich so was rauszunehmen. Der wird sich noch wundern, wenn er mal in dem Alter ist! Als hätte ich mich nicht gut gehalten! So verdeckt Kritik äußern! Wie ich das leiden kann! Und im nächsten Satz vielleicht andeuten, dass es eigentlich nicht schwerfallen muss abzunehmen! Als wäre ich auch noch zu dick! Leicht könnte ich mich wieder etwas besser in Form bringen, sehr leicht! Das muss man nur wollen! Aber in letzter Zeit will ich eben nicht! Wo ist das Problem? Wenn es weiter nichts ist, als dass die Haut nicht mehr ganz elastisch ist ...
Ich nehme den Langhaarschneider und stutze zwei übriggebliebene Bartstoppeln. Nassrasieren! Hah! Man muss sich nur zu helfen wissen!
Dann trage ich Gesichtswasser auf und wasche mir danach das Gesicht mit klarem Wasser. So ist das richtig! Dass man nicht stinkt wie all die Schönlinge, die so sehr auf ihr Aussehen achten. Dezent muss ein solcher Geruch sein, dezent! Mein Herr Sohn lehnt das natürlich ganz ab, findet Rasierwasser unnötig. Aber der muss eigentlich bei allem Contra geben. Sonst schmieren sich die Männer heute ja sogar wieder Gel ins Haar, und tätowieren sich, und stutzen sich ... ja, sie tun es, man muss es doch aussprechen, weil es nun mal so weit gekommen ist: Sie stutzen sich das Achselhaar und noch ganz andere Haare! Ich will gar nicht wissen, ob mein Herr Sohn das auch ... bestimmt! Weil meine Schwiegertochter das mit Sicherheit auch – aber egal! So wenig Vertrauen haben sie in ihr Aussehen, in sich selbst, so wenig ruhen sie in sich selbst, so sehr hängen sie ab von äußeren Vorgaben! Selber denken! Selbständig handeln! Wer kann denn das noch?
Ich stutze, als ich aus dem Bad gehe. Eigentlich bin ich voller Energie. Aber ich weiß noch nicht genau, wie ich sie am besten einsetzen soll – wie ich dazu den Tag einteilen werde. Immerhin wird aus einer Sache erst etwas Besonderes, wenn ich es mir vornehme. Ich werde erst einmal gut frühstücken.

 

5. Nicht jede Regel immer ganz genau nehmen

Ich kann nicht sofort mit dem Frühstücken anfangen, auch wenn meine Frau schon alles gerichtet hat. Ich muss zuerst die wichtigste Regel des Tages befolgen, und die heißt: Überleben.
Ich setze mich an den Tisch, verziehe das Gesicht und drücke die Brust durch. Stark bin ich. Das soll auch wieder meine Frau erkennen. Ich lege alle Tabletten, die ich jeden Tag nehme – die ich jeden Tag nehmen muss, um das ausdrücklich zu betonen -, in einer Reihe vor mich hin. Das gibt eine beeindruckende Linie in den verschiedensten Farben, von violett über gelb, blau, rot, orange, grün zu hellblau. Wenn man auch sonst an der Unordnung der Welt verzweifeln kann, so muss ich in diesem Fall doch zugeben: Hier hat sich mal einer Gedanken gemacht. Mit diesen Farben kann es nicht so leicht passieren, dass ich mal eine Tablette vertausche. So ein System hätte von mir sein können.
Wie den Schierlingsbecher, so muss ich manchmal denken, bringt mir meine Frau ein Glas Wasser, und ich fange an, die Tabletten eine nach der anderen zu schlucken. Manchmal greife ich sie mir, als wäre jede einzelne eine Zyankalikapsel.
Bei der blauen Tablette halte ich kurz inne, weil davon irgendwie ein Stück zu fehlen scheint. Wieviele ich von denen wohl noch habe? Die sollen ja ganz wichtige sein, die wegen der Schilddrüse. Hat meine Frau mir da schon die neue Packung besorgt? Ich fasse kurz in die Tischschublade und sehe, dass davon noch eine ganze Schachtel vorrätig ist. Nur ist die Schachtel noch gar nicht angebrochen. Das wundert mich ein wenig.
„Waren in der alten Schachtel nicht noch mehr als zwanzig Tabletten drin“, rufe ich meiner Frau zu, die wieder in die Küche gegangen ist.
Es dauert einige Zeit, ehe sie fragt: „Was meinst du?“
„In der alten Schachtel, die mit den blauen Tabletten, wegen der Schilddrüse – waren da nicht noch mehr als zwanzig drin“, frage ich verärgert, weil meine Frau eigentlich genau weiß, wovon ich spreche.
Es dauert geschlagene Sekunden, ehe sie antwortet: „Nein.“
Was für eine Art! Man kann doch eine ordentliche Antwort geben! Man kann doch das auch aushalten, den eigenen Mann leiden und dabei trotzdem kämpfen zu sehen!
Ich schiebe die Schublade wieder zu. Es lohnt sich nicht, deswegen nun mit Diskutieren anzufangen. Manchmal durchzuckt mich der Gedanke geradezu schmerzhaft, dass meine Mutter an Alzheimer gestorben ist. Aber zum Glück habe ich etwas gut gelernt: Bestimmte Gedanken erst gar nicht aufkommen zu lassen, so wie man im Garten den Klee gleich wegspritzt. Ich denke dann einfach an etwas anderes.
Dieses eine Mal wird es bestimmt nicht schaden, überlege ich noch kurz, wenn von der blauen Tablette ein Stück fehlt. Man muss auch nicht jede Regel immer ganz genau nehmen.
Einmal fragte mich Ben, mein Herr Sohn, der zu Besuch war, welche der Tabletten wogegen oder wofür seien. Ich wusste es nicht genau, also nicht so genau. Außerdem war schon diese Frage mit Sicherheit als Provokation gemeint. Bin ich nicht schon genug geschlagen mit meiner Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion, dem zu hohen Blutdruck, der möglichen Embolie, dazu immer wieder Kopfschmerzen, sogar Migräne und von den Zipperlein gar nicht zu reden? Und Rücken – hätte ich fast vergessen.
Trotzdem wagte mein Sohn auch noch zu fragen: „Meinst du wirklich, dass du alle diese Tabletten nehmen musst?“
Da bin ich aufgesprungen und hatte bestimmt einen Puls von 180, als ich schrie: „Was soll denn so eine Frage? Was denkst du dir denn? Ich nehme die doch nicht zum Spaß. Was soll ich denn machen, wenn die Pumpe nicht mehr richtig funktioniert?“
Mit verzerrtem Gesichtsausdruck griff ich mir ans Herz und setzte mich stöhnend wieder hin, damit er noch zusätzlich begriff, was für eine Frage er da gestellt hatte.
Ben erzählte aber noch weiter: „Bei vielen Völkern auf der Welt, die noch einigermaßen ursprünglich leben, gibt es gar keinen hohen Blutdruck, auch keine Herzinfarkte. Das hat wohl auch damit zu tun ...“
Da habe ich meinen Schierlingsbecher auf den Tisch geknallt und noch mal geschrien: „Was ihr immer mit euren Naturvölkern habt! Dafür bringen die sich alle gegenseitig um und schneiden sich die Köpfe ab. Und unsere Fernsehgeräte und Autos und Handys wollen sie doch auch alle haben! Wieso sollen die mir ein Vorbild sein?“
Mein Herr Sohn grinste da nur noch schwach und ging dann zu seiner verständnisvollen Mutter in die Küche.
Was wissen manche Leute schon davon, welch einen Kampf ich kämpfe! Nicht einmal in meiner eigenen Familie wird das anerkannt, geschweige gewürdigt! Die sollten einmal selbst in die Lage kommen, so viele Tabletten schlucken zu müssen! Die würden ja nicht mal eine runterkriegen! Dabei wollen mir alle so gute Tipps geben! Sie sehen doch, was ich durchzumachen habe!
Wenigstens versteht mich mein Arzt. Bei dem muss ich nie lange warten und nicht lange drumrumreden. Der gibt mir, was ich brauche, ohne lange zu fragen. Und er erzählt mir bestimmt nicht von irgendwelchen Urwaldvölkern, die zwei Monate am Stück fasten und dafür keinen Schlaganfall kriegen. Es wollen eben alle die Welt verbessern, wenn sie nur selbst nicht von ihren Mängeln betroffen sind.
Seit einiger Zeit nehme ich zwei Tabletten weniger, die grüne und die hellblaue, weil die Gesundheitskosten bei mir inzwischen ziemlich zu Buche schlagen. Dass die hellblaue wegfiel – das kann ich aber schon deswegen verschmerzen, weil ich sie so nicht mehr mit der blauen verwechseln kann. Seltsamerweise hatte der Arzt gar kein Problem damit, bestimmte Tabletten von der Liste zu streichen und diese jetzt nicht mehr zu verschreiben.
Auf jeden Fall ist es ja typisch, dass man diejenigen bestraft, die bestimmt keine Schuld an ihrem Zustand haben. Aber die anderen – wenn ich nur an die Drogenabhängigen denke – bekommen noch Sonderurlaub in einer Spezialklinik bezahlt. Ist es da ein Wunder, wenn jetzt so rechte Leute mal ganz andere Saiten aufziehen wollen?
Als meine Frau aus der Küche ruft: „Hast du eingenommen?“, brumme ich nur vor mich hin und zwinge mich, mich auf das Frühstück zu freuen.
Wieder ruft meine Frau: „Hast du eingenommen?“
Mein Puls steigt wieder. Warum fragt sie das? Warum ist sie überhaupt weggegangen, als ich noch längst nicht damit fertig war, meine Tabletten zu nehmen? Weil sie es nicht ertragen kann, mich leiden zu sehen? Sie will gar nicht erst verstehen, welche Qualen mit diesem Kampf verbunden sind.
Als sie ein drittes Mal ruft: „Hast du eingenommen?“, brülle ich: „Ja!“, und schlage auf den Tisch.
„Ich frag ja nur“, sagt sie und bringt die Kaffeekanne.
Endlich kann das Frühstück beginnen.

 

 

I. Als Name nicht so verkehrt

Ich, Ben, Wilkes Sohn, Ben Wilke also, will gerade heraushören, ob die Schaltung an meinem Fahrrad mit einer bestimmten Tonhöhe korreliert. Dazu versuche ich, das leise Sirren der Kette stimmlich als Ton zu treffen. Wenn ich den habe, halte ich ihn eine Weile, schalte dann und versuche, auch diesen Ton zu treffen. Ich habe sogar schon mal versucht, mit der Schaltung zu komponieren, wofür ich immerhin fünf Zahnkränze und drei Kettenblätter zur Verfügung habe. Aber als ich tatsächlich ein Thema gefunden hatte, mit einem Quintensprung darin, habe ich fast eine alte Oma angefahren.
Das Fahrradfahren ist mir wichtig. Irgendwo muss man ja mal Zeichen setzen und auch als gutes Beispiel vorangehen, wenn sich wirklich etwas ändern soll. Zwar hätte ich mich früher darüber lustig gemacht, wenn jemand gemeint hätte, mit Hilfe des Fahrrads die Welt verändern zu wollen. Aber was bleibt heute noch, um unser Leben besser zu machen? Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei, wo dein Platz, Genosse, ist? Kampf gegen den Kapitalismus? Soll ja wieder kommen! Trotzdem: Historie! Vorher geht die Welt unter. Und das Lied würde heute nur noch in der Genderdiskussion interessieren.
Für mich ist das mit dem Rad auch in anderer Hinsicht bequem, weil ich auf diese Weise flexibler bin und nicht so auffalle. Päpstlicher als der Papst bin ich deswegen aber nicht: Wenn es in Strömen regnet, nehme ich durchaus den Wagen und genieße dann die wirklich gute Musikanlage mit den getrennten Mittel- und Hochtönern. Außerdem trägt das Fahrradfahren dazu bei, dass ich fit bleibe.
Also: Ich bin Ben. So eine Wortreihung würde bestimmt meinem Vater gefallen. Vielleicht hat er mich deswegen so genannt! Spaß! Mein Vater als Meister der deutschen Sprache, wie er sich sieht, hätte mich eigentlich Wilhelm oder Willbrecht nennen müssen, denn er weiß natürlich, was eine Alliteration ist. Aber vielleicht standen ihm bei meiner Geburt für den Buchstaben W nur diese urdeutschen Namen zur Verfügung, und er ist deswegen doch zurückgeschreckt. Immer zu rufen: Willbrecht, miste dein Zimmer aus! ... Schwierig auf Dauer! Außerdem ist Ben für die Befehlsform viel besser geeignet.
Manchmal kann er ja richtig fortschrittlich denken, falls eine solche Kennzeichnung für ihn angemessen wäre. Oder vielleicht war er als junger Mann in seinem Denken anders, irgendwie liberal. Aber ich muss mir nichts vormachen. Im Haus meiner Eltern stand eigentlich immer alles an seinem Platz, sogar die Mülltonnen. Noch heute ist das so: Wenn irgendein neuer, unberechenbarer Mieter die Mülltonnen nach der Leerung verkehrt hingestellt hat, also die Biotonne links neben die Normalmülltonne, dauert das höchstens zehn Minuten – dann hat er sich Schuhe angezogen, nimmt, wie immer, den Fahrstuhl und stellt die richtig hin, noch den schweren Stein auf die Biotonne, wegen der Rattengefahr.
Trotzdem ist Ben als Name nicht so verkehrt, „neutral“ eigentlich. Schon deswegen hätte es mich schlimmer treffen können.

 

II. Viel fordern

Ich bin auf dem Weg zu ihr. Nun ja, sie hat natürlich einen Namen, aber den muss ich hier nicht öffentlich machen. Wir treiben so ein Versteckspiel, was vielleicht einen eigenen Reiz ausmacht. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob vielleicht gerade das den Reiz ausmacht, so wie die berühmten Kirschen aus Nachbars Garten ...
Aber ich muss mir auch nichts vormachen und einfach realistisch sein: Wenn Corinna, meine Frau, herausbekommt, was ich da treibe, und treibe ich wahrlich das passende Wort, dann ... Keine Ahnung! Daran will ich eigentlich gar nicht denken. Das geht jedenfalls überhaupt nicht anders denn als Versteckspiel (hier sprachlich wieder meines Vaters gedenkend!).
Immerhin konnte ich heute morgen sozusagen in aller Ruhe aufbrechen. Conni hat nur gesagt, ich solle nicht zu spät kommen. Sie macht eigentlich gern das Essen, wenn unser Kleiner bis zum Nachmittag in der Krippe sein kann. Auf jeden Fall hat sie es gern, wenn wir mittags am Tisch zusammen sitzen.
Heute morgen musste ich auch wirklich dringend ins Büro. Ich muss für den Chor unbedingt die Ausschreibungsunterlagen einreichen, um hoffentlich einen Zuschuss der Stadt zu bekommen, zusätzlich zu dem des Landes. Heute muss man ja im kulturellen Bereich vor allem auch ein guter Unternehmer sein: Einerseits Gelder anfragen, andererseits mit der immensen Bedeutung im Kulturbetrieb antworten. So muss das immer zusammen klingen. Ich muss vor dem Kulturausschuss so viel fordern, dass dann hoffentlich die Hälfte an Zuschuss gewährt wird. Das städtische Geld würde wieder gut für uns reichen, für meine Honorierung ebenfalls. Ich muss schließlich auch zusehen, wo ich bleibe. Chorleiter sind nun mal finanziell nicht auf Rosen gebettet. Trotzdem will ich mich nicht beschweren, das wäre wahrlich Jammern auf hohem Niveau. Geld ist in unserer Gesellschaft genug vorhanden, man muss nur herankommen.
Ok, wenn man das global oder von mir aus systemkritisch betrachtet, fallen bei uns ein paar durchs Raster. Aber ich glaube nicht mehr daran, dass mit denen irgendwie Staat zu machen wäre. Man will ja, dass es allen gut geht, und ich habe das früher bis zum Äußersten gefordert. Doch es gibt nun mal so etwas wie ein Lumpenproletariat, wie Marx es genannt hätte. Diese Leute treffen sich schon morgens am Kiosk auf ihr Bier. Soll man denen zu Arbeit und einem ordentlichen Tagesablauf verhelfen? Wollen die das denn? Wer in der reichsten Gesellschaft der Welt nicht zu Potte kommt – vielleicht will der das so haben: Morgens schon ein kühles Bierchen zischen, dazu eine Zigi durchziehen und dem Hund ein paar Streicheleinheiten geben! Wer bin ich, darüber zu rechten, was Glück ist?
Und heute kommen noch die Flüchtlinge dazu. Von denen lungern ja auch etliche herum und leben dort im Park in den Tag hinein, aber anders. Die verticken ihre Drogen und sind mit den Pennern nicht zu vergleichen. Wieso sollen die sich überhaupt um eine geregelte Arbeit bemühen, wenn sie locker richtig Kohle unter der Hand machen können, abgaben- und steuerfrei? Solange bei uns die Drogen nicht legalisiert sind, schaffen wir uns den schwarzen Mann.
Ich kann mich jedenfalls nicht beklagen. Und diesen Antrag – den musste ich nur noch mal mit meiner Sekretärin besprechen, einer älteren Dame, mit der ich rein geschäftlich gut zusammenarbeiten kann. Sie wird das dann im Detail fertig machen und mir noch einmal zur Prüfung vorlegen.
Sonst aber muss ich zusehen, wo ich bleibe, ich mit meinen Gefühlen, mit meinem Ego, meiner Verletzlichkeit. Und da bin ich heute morgen eben nicht nur im Büro, sondern fahre auch zu ihr.

 

III. Als würde man ein Glas Wasser ausgießen

Ich habe nun heute Morgen wirklich Ruhe, um mich ein wenig abzulenken. Um was es geht – das geht zwar auch mal in aller Eile, für mich als Mann. Aber für die Frau ist das doch nur so, als hätte man ein Instrument gerade warm gespielt. So stelle ich mir das jedenfalls vor.
Mit ihr ist es einfach besser als mit Corinna, überhaupt reizvoller. Sie empfängt mich ja schon im Negligé. Sie hat so unglaublich viel Lust auf mich. Sie muss nicht erst in Stimmung kommen, und sich dabei vielleicht so aufreiben, dass es dann doch nicht geht, weil sie mir erst wieder Vorhaltungen machen muss. Nein, bei ihr darf ich gleich den Vorhang öffnen und die Aufführung sofort und gratis genießen. Sie spielt nur für mich, in allen Lagen. Sie wechselt die Tonhöhen, ohne sich einstimmen zu müssen, und sie kann zwischen forte und pianissimo wechseln, als könnte ich sie anschlagen wie ein Klavier. Nur mit mir, sagt sie, läuft das bei ihr so gut, dass sie mich sofort aufnehmen kann. Das würde bei keinem anderen klappen. Und das glaube ich ihr. Doch, es macht mich stolz. Da muss ich mir nichts vormachen. Bei ihr bin ich frei wie noch nicht einmal bei meiner Frau, mit der ja lange nichts mehr gewesen war. Unser Kind hatte den Trieb erst mal in ihr abgestellt. Aber was sollte ich in der Zeit machen? Bin ich nicht nur ein Mann und muss sehen, wo ich bleibe? Jetzt geht, oder soll ich wirklich sagen, läuft es wieder bei meiner Frau, ein zweites Kind ist nicht ausgeschlossen, aber sie ist nun mal geblieben.
Ich habe mal von den Pygmäen gelesen, den doch wohl ursprünglichsten Menschen. Wenn mal wieder ein Kind geboren wird, beschränken die sich in ihrer Sexualität, vor allem die Frau. Beschränkt ist nämlich ihre Umwelt, die nicht genug Nahrung hergibt, um die Bevölkerung ständig anwachsen zu lassen. Wir haben das zivilisatorisch überwunden. Bei uns ernährt ein Bauer hundert Leute, oder sogar Tausend? Trotzdem tragen wir doch die Gene der Urmenschen in uns. Die Frauen verschließen sich dem Mann nach der Geburt. In einem Chorwerk muss man ja auch erst wieder Atem holen, wenn an einer Stelle verlangt ist, die Stimme bis Ultimo auszureizen.
Im Chor steht ja auch die Versuchung in den Formen von Alt und Sopran ständig vor mir. Und was den Sopran angeht: Der ist mir am liebsten, wenn eine Frau den Höhepunkt erreicht – dann möglichst sogar der, der bis über das zweigestrichene A hinausgeht, und zwar ohne dass dabei zuviel gepresst wird. Im Idealfall müssen die Töne so kommen, als würde man ein Glas Wasser ausgießen. Da spürt man dann auch, ob das wirklich natürlich geschieht. So sage ich das auch immer bei den Proben.
Vielleicht besteht das einzige Problem darin, dass ich meinen eigenen Trieb für sie aufbewahren muss. Schließlich bin ich nicht mehr der Allerjüngste. Zweimal höchstens – mehr ist nicht mehr drin, und auch das muss sich sozusagen erst in mir entwickeln. Aber für sie hebe ich das eine Mal wirklich gern auf, und zum Glück reagiere ich eigentlich genauso auf sie wie sie auf mich.
Und sie schafft auch dazwischen eine Atmosphäre, die mich sozusagen in Spannung hält. Weil es ja die Minibars in den Hotelzimmern nicht mehr gibt, die sich wohl nicht mehr lohnen und überhaupt viel zu teuer waren, bringt sie zu unseren Treffen immer selbst ein Getränk mit, und zwar eine Flasche Champagner. Obwohl das nur der von Aldi oder Lidl ist, oder wo es den billig gibt, denkt sie daran, auch an ein paar Chips und feine Schokolade, die ja auch die Libido fördern soll. Das ist ihr Beitrag zu unseren Treffen. Sie weiß schon, wie ich wieder in Schwung komme. Ich bezahle das Hotelzimmer und sie die Garnitur. Für mich bedeutet das, erst recht gut für die Unterstützung des Chors zu verhandeln und an einem Tag in der Woche mittags zufrieden und immer ein bisschen angetrunken nach Hause zu fahren.

 

IV. Ein anderes Thema aufgreifen

Ich fahre gerade einen hohen Gang und singe ein tiefes C. Jedenfalls meine ich, dass es dieser Ton sein müsste. Ich hoffe, höchstens um einen Halbton danebenzuliegen. Manchmal habe ich in einer solchen Situation schon mein Smartphone herausgeholt und mit einer dieser Tuning-Apps geschaut, welchen Ton ich da genau singe. Das ist nämlich ein Manko von mir, wenn es denn eins sein kann: Dass ich eben nicht das absolute Gehör besitze. Zwar gebe ich nichts darauf, aber man kommt nicht drumherum: Wer als Musiker richtig groß ist, hat das absolute Gehör, behauptet das zumindest. Karajan etwa, oder Barenboim, bei denen das ja auch noch mit Genie assoziiert wird – Genie, ach was! Egomanische Perfektionisten, die immer einen unter sich brauchen, damit sie groß erscheinen können. Ich selbst achte immer darauf, eine lockere Atmosphäre zu schaffen, damit sich jeder frei entwickeln kann.
Als ob es auf das absolute Gehör ankäme! Worauf es ankommt, ist die Fähigkeit zu hören, wie sich ein Ton neben dem anderen verhält: Der Falkensteiner vom Tenor etwa – der ist immer noch nicht sicher darin, wirklich eine Terz über dem Bariton zu singen und das zu halten, also durchzuhalten!
Gerade als ich daran denke, doch mal eben den Ton zu bestimmen, den ich gerade singe, klingelt mein Handy. Leider geht das nun nicht zusammen, auf das Gespräch zu antworten und mir meinen Ton zu merken. Aber ich halte an, ohne den Gang zu wechseln.
Conni ist dran. Jetzt heißt es, cool zu sein, um für danach Ruhe zu haben.
Wo ich sei, fragt sie. Im Büro hätte ich mich verabschiedet, habe meine Sekretärin gesagt. Wo ich denn bleibe!
Die Gedanken rasen mir durch den Kopf wie vor einem Auftritt. Wieso ruft sie überhaupt an, frage ich mich, es gibt doch keinen Grund dafür. Ich habe gesagt, wo ich bin und dass ich rechtzeitig zu Hause sein werde. Wie Maria vom Sopran, kommt es mir plötzlich in den Sinn, die zwar wirklich gut singen kann, aber ohne Partitur manchmal irgendwo reinquakt.
„Ich bin bald zurück“, sage ich und versuche, unaufgeregt zu klingen. „Aber ich muss noch mal los, zum Musikhaus, um die Partitur von Mozarts Ave verum corpus zu kaufen, unserem neuen Stück.“
Warum ich mir das nicht schicken lasse, will sie wissen. Warum so umständlich?
„Ach, jetzt kritisier mich doch nicht schon wieder“, antworte ich, weil ich weiß, dass ich auf diese Weise ablenken kann.
Es ist zwar nicht fair, diese Karte auszuspielen, aber ich muss jetzt einfach ein anderes Thema aufgreifen, schon um Zeit zu schinden, schon um meine Gedanken zu ordnen. Ich will doch noch zu ihr. Ich habe seit Tagen meine ganzen Gefühle für sie aufbewahrt.
Ich solle nicht so empfindlich sein, sagt Conni beleidigt. Sie wolle nur wissen, ob das nachher klappt.
„Was klappt?“, frage ich überrascht und höre prompt, ich solle mal jetzt nicht so tun. Alzheimer wie bei meinem Vater sei das ja wohl noch nicht.
„Haha!“, mache ich – und mache eine Pause.
Conni weiß sehr wohl, dass ich eins nicht leiden kann: Wenn sie mich mit meinem Vater vergleicht, oder wenn sie sogar behauptet, dies oder das hätte ich von meinem Vater.
Nun kann ich aber leicht wieder auf unser Thema kommen und sage beherrscht empört: „Wenn ich jetzt kurz losfahre und die Partituren selbst besorge, verliere ich damit keine Zeit und kann gleich weiterarbeiten.“
Weiterarbeiten, fragt Conni und macht eine sehr lange Pause. Dann sagt sie nur noch, ich solle jedenfalls rechtzeitig zurück sein, rechtzeitig. Ich könne ja wohl jetzt mal an sie denken!
Aufgelegt!
Ich atme durch und denke an das eingestrichene C, das ich vorher wohl auf dem größten Ritzel hatte.
Was war das jetzt für eine Szene, überlege ich und merke, wie es mich nun erst recht zu ihr drängt. Ich kann vor Erregung kaum richtig auf den Sattel steigen. Ist das eine Übersprungshandlung, frage ich mich kurz. Eigentlich wollte ich genießen, was ansteht, ganz in Ruhe, aber irgendwas kommt im Leben immer dazwischen. Schon deswegen kann es keinen perfekten Mord geben, ist klar. Konstantin, mein Freund, ist der Einzige, mit dem ich mich austauschen kann, wenn es um sie geht. Er behauptet immer, jede Affäre würde irgendwann auffliegen. Mit einem Mord hat er das aber auch nicht verglichen.
Dass ich jetzt doch in Eile bin! Ehrlich gesagt, dachte ich, der Tag heute – der könnte mal so richtig entspannt sein. Ein bisschen Arbeit, ein bisschen Liebe – und dann zu Hause relaxen. Ich fühle mich eigentlich immer noch so, will mich so fühlen: Diesen Tag mal sozusagen einen guten Mann sein lassen.
Haben sich denn die Italiener diesen Begriff ohne Absicht ausgedacht: Dolce far niente? Darauf muss man erst mal kommen. Darin verbirgt sich der ganze kulturelle Unterschied zu uns Deutschen. Wozu ist das Leben da: Schaffe, schaffe, Häusle baue? Schön arbeiten, auch um seiner selbst willen? Wozu ist das Leben da? Das süße Nichtstun! Das ist auch eine Kultur, in Jahrhunderten als Lebenseinstellung erarbeitet! Das will ich mir heute mal gönnen, auch wenn jetzt leider etwas dazwischengekommen ist. Aber das liegt ganz an mir, oder eher: An meinen Hormonen? Aber ich will die Schuld nicht delegieren. Ein Dirigent muss wissen, dass ihm so ein vorlauter Tenor dazwischenhauen kann. Das muss man bei den Proben klären. Da muss man so einen, wie diesen Falkensteiner, in seiner Geltungssucht mal drücken, auch wenn man das natürlich nicht laut sagen darf.
Obwohl mich Corinnas Anruf nun unter Druck gesetzt hat, bin ich gerade wie berauscht. Ich spüre, wie mich zweierlei beherrscht: Einmal das Gefühl, in einer wirklich brenzligen Situation cool reagiert zu haben, eigentlich wie ein Stoiker, und andererseits: Doch die Hormone.

 

 

6. Die Leberwurst dick aufgetragen

Ich würde mir, als ich mich hinter meinem Frühstücksteller aufrichte, gern Mühe geben, positiv zu wirken, eine optimistische Stimmung auszustrahlen, ja, irgendwie eine Dynamik zu verkörpern. Doch als mein Blick über den Tisch wandert, fühle ich mich dadurch wie gefangen. Hier das Frühstücksei, dort die Kaffeekanne, die Butter in Reichweite – und die Leberwurstschrippe schon geschmiert.
„Alles recht?“, fragt meine Frau. „Guten Morgen!“
„Morgen!“, gebe ich mit fester Stimme zurück, die aber noch ein wenig brüchig wirkt. Ich muss mich erst noch räuspern, um den Hals freizubekommen, tue das auch, nur bleibt sofort die Frage, was ich weiter noch sagen soll. Ich gieße mir selbst von dem Kaffee ein und lege die Zeitung neben mich, die noch nicht einmal angelesen ist. Dabei ist meine Frau doch schon länger wach. Typisch.
Nur die Zeitung kann mich aus meinem Gefangenenstatus befreien – das weiß ich. Alle anderen Gegenstände auf dem Tisch sind sozusagen seit Jahren besprochen, seit Jahrzehnten: Jeder ein Stein in der Gefängnismauer, so kommt es mir plötzlich vor. Das Frühstücksei ist bestimmt wieder zu weich, was daher kommt, dass meine Frau die Eier unnötigerweise im Kühlschrank aufbewahrt. Wenn sie die dann sechs Minuten kocht, sind das halt keine richtigen sechs Minuten. Da fehlt eben die entscheidende Minute, die das Ei braucht, um sozusagen auf Betriebstemperatur zu kommen. Doch ich will deswegen nicht wieder eine Grundsatzdiskussion anfangen.
Was mich jedoch irritiert, ist die schon geschmierte Leberwurstschrippe. Was denkt sich denn meine Frau dabei, die schon fertig zu machen? Das hat sie noch nie gemacht. Sie weiß doch gar nicht, wieviel Butter und Leberwurst ich genau nehme. Sie streicht bestimmt nur so eine feine Schicht Leberwurst auf das Brötchen, für den Geschmack, wie sie wohl sagen würde. Aber in diesem Fall, in diesem wirklich besonderen Fall muss die Leberwurst mal opulent aufgetragen werden. Das ist es, was eine Leberwurstschrippe zum Frühstück ausmacht: Dass man da reinbeißt und spürt, wie sich die Wurst sofort zwischen den Zähnen verteilt.
Ich hebe kurz die obere Brötchenhälfte an und sehe mich bestätigt: Zwar ist die Leberwurst dick aufgetragen, aber auch die Butter, die damit den Geschmack der Leberwurst fast wieder neutralisiert.
Ich lege das Brötchen zur Seite und nehme mir die Zeitung.
„Kein Leberwurstbrötchen?“, fragt meine Frau, und in ihrer Stimme ist die Enttäuschung eindeutig herauszuhören.
„Nein, heute doch nicht“, sage ich und füge noch an, um sie nicht zu beleidigen: „Ich nehme heute lieber von der Mortadella.“
Meine Frau atmet durch. Sie atmet noch einmal tief durch und guckt dann aus dem Fenster.
Ich kenne die Situation zur Genüge: Was haben wir uns eigentlich noch zu sagen? Es ist wirklich alles geredet. Auch deswegen muss ich diesen Tag benutzen, um das Hamsterrad zu stoppen, oder besser: Es vorsichtig auslaufen zu lassen.

 

7. Nur noch wegen der Fußballergebnisse

Ich nehme mir die Zeitung und überschlage die ersten Seiten. Ich suche nach dem Sportteil, der mir an so einem Samstag immer am wichtigsten ist. Natürlich kenne ich in der Zwischenzeit die Fußballergebnisse von gestern, weil die ja immer gleich aufblinken, wenn man nur auf sein Handy sieht. Manchmal gebe ich mir Mühe, die irgendwie zu überlesen, wenn ich nur mal sehen will, ob sich bei diesem Whatsapp jemand gemeldet hat, Corinna vielleicht, meine Schwiegertochter. Aber auch wenn es bei der die ganze Zeit ping macht, wenn sie wirklich mal zu Besuch ist, schreibt sie mir kaum mal, nicht mal eine Zeile, obwohl das doch heute so leicht ist. Sogar ein Rechtschreibprogramm ist da eingebaut. Wenn ich nur an früher denke, was ja gar nicht so lange her ist: Da musste man einen Bogen Papier nehmen, darauf schreiben, mehr als einen Satz, noch den Duden dazunehmen – ich ja eigentlich nicht -, dann einen Umschlag finden, eine Briefmarke, und musste natürlich auch noch zum Postkasten gehen – heute reicht ein mit den Fingerkuppen getippter Satz, und selbst dazu sind sich die Leute zu bequem geworden. Und wenn meine Schwiegertochter sich wirklich mal dazu herablässt, schreibt sie wem? Meiner Frau.
Ich lese die Süddeutsche eigentlich nur noch wegen der Fußballergebnisse. Da können die Redakteure noch mal so richtig aus dem Vollen schöpfen und zeigen, wozu sie in der Lage sind. Denn das können einige von ihnen doch, wenigstens bei der Süddeutschen: Schreiben. In der Hinsicht ist im Lokalblatt ja alles zu spät. Da nehmen sie inzwischen wohl nur noch diejenigen als Volontäre, die gut plappern können. Wegen dem werden die dann übernommen.
Im Sportteil gibt es noch diese Momente, wo man merkt, was Redakteure eigentlich könnten, wenn sie dürften: Mit feiner Feder zu schreiben, und dabei zwar nur dieses Fußballgeschäft zu analysieren, aber eigentlich das politische System zu meinen.
Sonst findet das ja nicht mehr statt. Gleich auf der ersten Seite ist da wieder so eine Überschrift: „Das Mittelmeer als der nasse Friedhof unseres Wohlstands.“ Da weiß man schon im voraus, was für eine Art Journalismus man zu erwarten hat. Da geht es nicht mehr um die Fakten, etwas aus feiner Feder, sondern darum, auf grobem Klotz uns das Weltbild dieses Schreiberlings einzubläuen. Wird man da informiert? Nein, belehrt wird man!
Wie sich das überhaupt gewandelt hat! Gab es in diesem Land nicht vor kurzem noch eine Willkommenskultur? Ausgerechnet bei den Deutschen? Was haben die Politiker, Industriebosse und die sogenannten Aktivisten da auf die Tränendrüse gedrückt! Diese Gesellschaft braucht billige Arbeitskräfte, ganz einfach ist das. Deswegen gingen plötzlich die Grenzen auf und deswegen hatte Deutschland plötzlich eine Willkommenskultur. Ist ja auch in Ordnung, dass man die alle aufgenommen hat. War ja auch eine tolle Geste angesichts der deutschen Vergangenheit. Aber nüchtern betrachtet: Wer will denn in diesem Land noch den Müll wegfahren oder die Pakete austragen oder den Alten den Hintern abwischen? Ich stocke und verziehe das Gesicht.
„Was ist?“, fragt mich meine Frau irgendwie teilnahmslos. „Rücken?“
„Ja“, stöhne ich. „Das auch. Aber nicht der Rede wert. Ich halte das aus. Ich halte das alles aus.“

 

8. Mal die Sau rauslassen

Ich bezwinge die Leere des Schweigens, indem ich anfange, aufmerksam über Bayern München zu lesen.
„Millionen bezahlen sie jetzt für den“, sage ich zu meiner Frau, die mir geradezu nachlässig und ohne fragenden Blick noch eine zweite Scheibe Mortadella auf mein Brötchen legt, „obwohl der in England doch nur noch auf der Bank saß. Millionen!“
„Die haben’s halt!“, sagt sie.
„Danke, zwei Scheiben reichen“, sage ich und gebe mir Mühe, das nicht nur so nebenher dahinzunuscheln. „Allerdings brauchen wir nun mal so einen Verein, auch Dortmund mit seiner Aktiengesellschaft. Was hat denn Deutschland sonst noch vorzuzeigen im Fußball? Da kauft man sich halt die, die gut sind, wenn sie’s denn sind. Das war ja mit den Flüchtlingen auch nicht anders. Da muss man eben auch gucken, wen das Land gebrauchen kann. Allein schaffen wir das doch nicht mehr. Wann spielt denn eigentlich Bayern wieder? Aha, am 16., also übermorgen erst.“
„Dann ist heute der 14., nicht wahr?“, sagt meine Frau plötzlich.
„Genau“, antwortet ich nur und wundere mich.
Als könnte ich nicht rechnen! Für einen Augenblick sehe ich wieder den Begriff Alzheimer vor mir und die Frage, ob meine Frau wohl anfangen könnte, mich darauf zu testen.
Als ich umblättere, sagt sie plötzlich noch: „Donnerstag, der 14. Juli. Aber das ist ja auch egal.“
„Natürlich ist das im Grunde egal“, brumme ich und stutze wieder.
Vielleicht hat sie recht, überlege ich. Es ist wirklich egal, welcher Tag es ist. Mir dämmert, was meine Frau eigentlich sagen will, weil doch Frauen nie direkt damit herauskommen, was sie wirklich wollen. Doch ich habe verstanden und schlage die Zeitung zusammen. Ich spürt nun wieder den Kämpfer in mir.
Langsam und deutlich sage ich: „Aber auch so ein Tag ist doch was Besonderes. Man muss nur etwas besonderes daraus machen.“
„Genau“, antwortet sie ziemlich laut und lächelt seltsam.
Warum muss mich meine Frau immer so herausfordern? Aber vielleicht passt das auch gerade, vielleicht muss das gerade so sein. Habe ich mir nicht extra vorgenommen, auch aus diesem Tag mal etwas Besonderes zu machen, erst recht etwas Besonderes?
Wenn sie nur leicht zu begeistern wäre! Aber sie geht immer nur mit, immer irgendwie mit Widerstand. Ich muss immer derjenige sein, der ihren Lauf lenkt. Nur muss ich mir nichts vormachen: Es sind nicht alle in der Lage, ihr Leben wirklich selbst zu gestalten. Manchen reicht es, wenn sie mitgezogen werden. Trotzdem spüre ich manchmal wirklich schwer die Verantwortung, die deswegen auf mir lastet.
Auf einmal lache ich sie an. Als hätte sie mir zum zweiten Mal auf die Sprünge geholfen, weil sie mit mir über Fußball geredet hat, rufe ich laut: „Heute Abend ist ja Fußball, hier bei uns, meine ich, also Fußball auf dem Platz! Da gehe ich hin!“
Ich freue mich so über diesen Einfall, dass ich mir vor Begeisterung auf die Schenkel schlage.
Meine Frau lächelt, guckt kurz aus dem Fenster und nickt mir dann zu.
Sie hat verstanden. Und auf dem Fußballplatz kann ich in Ruhe einen Schnaps trinken. Da werde ich für mich sein und muss mir von ihr deswegen nichts anhören.
Damit wird der Tag schon mal zu etwas Besonderem werden! Ein wenig erschrecke ich jedoch: Denn wie konnte ich so etwas vergessen? Doch, ich weiß weswegen: Weil das ein Nachholspiel ist, heute am Donnerstag. Nicht dass nun der ganze Tag von diesem Fußballspiel bestimmt würde – so viel bedeutet es mir nun wieder nicht. Aber es gibt dem Tag sozusagen von sich aus eine Perspektive, eine Wegmarke, auf die sich zusteuern lässt. Es gibt die Freiheit, den Tag ganz locker zu gestalten, weil ich weiß, dass der ganze Nachmittag nicht extra geplant werden muss.
Gewiss ist ein Besuch auf dem Fußballplatz nichts an sich Besonderes angesichts des Entschlusses, dass ich mir etwas Besonderes vornehme. Fußball ist natürlich für die Masse, für das allgemeine Volk. Ins Stadion etwa würde ich nie gehen. Höchstens gehe ich eben mal auf den örtlichen Fußballplatz, wie jetzt, um für die Lokalelf zu schreien. Ja, ich schreie dann. Immerhin kann man da mal die Sau rauslassen, obwohl ich sonst gewiss nicht ordinär bin. Aber es ist einfach eine Möglichkeit zu toben und nicht in der Masse zu stehen.
Zu diesen Fußballspielen gehe ich allein, weil meine Frau, die vom Fußball sowieso nichts versteht, nichts verstehen will, erst gar nicht sehen soll, wie ich auch sein kann. Man muss doch Haltung bewahren. Das hat die Deutschen immer ausgezeichnet.
Das Fußballspiel vor Augen gewinne ich an Stimmung.

 

9. Eine pure Luxus-Handlung

Ich strahle über das ganze Gesicht. Als würden die Ideen plötzlich nur so aus mir heraussprudeln, kommt mir gleich die zweite, und ich lehne mich durchatmend zurück. Ich muss kurz innehalten, um die Idee sozusagen manifest werden zu lassen und sie dann in Ruhe zu transformieren.
Mit manchen Dingen darf man nicht einfach so herauspoltern. Das ist wie mit einem Geschenk: Warum wird das wohl eingepackt, obwohl dafür so viel aufwendig bedrucktes Papier verschwendet wird? Um die Vorfreude zu erhöhen!
Ich sage meiner Frau, die wieder aus dem Fenster guckt und wohl ihrerseits überlegt: „Ich habe eine Überraschung.“
Ich sage es laut und ich sage es in einem Ton, der bestimmt alarmierend klingt, so dass man eigentlich den Kopf herumreißen müsste. Aber meine Frau dreht den Kopf nur wie in Zeitlupe zu mir.
Ich wiederhole: „Ich habe eine Überraschung!“
„Ja?“, sagt sie und hebt kaum die Stimme.
Wieviel Mühe muss ich mir geben, um sie zu begeistern? Manchmal kommt mir jede ihrer Reaktionen mir gegenüber wie ein Vorwurf vor: Was habe ich denn jetzt schon wieder gemacht? Was habe ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt?
Doch ich habe nun mal das Eheversprechen gegeben. Ich werde meine Frau nie im Stich lassen. Ich werde immer zu ihr stehen, auch oder gerade in den schlimmsten Zeiten!
Immerhin wird sie nun lächeln, wenn ich meinen erweiterten Plan vor ihr ausbreite. Es wird sie freuen, dass sie an diesem Tag von einer Aufgabe befreit ist. Sie kann sich mal wieder verwöhnen lassen.
Ich verhaspele mich beinahe, als ich sage: „Mir ist noch eine Idee gekommen: Vor dem Fußball gehen wir zusammen essen!“
Doch meine Frau weiß Gesten nicht mehr zu schätzen. Auch für sie ist vieles schon zu selbstverständlich geworden. Als ob es nicht etwas wirklich Besonderes wäre, Essen zu gehen! Sie lächelt, aber ihr Lächeln ist müde.
Zwar ist es keine so große Aufgabe, ein Essen für zwei zu machen, ein paar Kartoffeln zu kochen und zum Beispiel ein Schnitzel zu braten, Teller hinzustellen, Brot zu schneiden – das könnte ich auch selbst, so wie ich mir ja auch selbst mein Bier aufmache. Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Mein Angebot ist eben deswegen etwas Besonderes, weil wir also essen gehen, ohne dass dies eine so große Erleichterung für sie bedeuten würde. Ich erlaube mir damit eine pure Luxus-Handlung – etwas, was mir ja wohl auch einmal gegönnt sein muss!
„Das haben wir lange nicht mehr gemacht“, sage ich, immer noch begeistert: „Ein bisschen besser essen gehen, in ein gutes Restaurant, mal ein bisschen mehr Geld ausgeben, sich mal was gönnen. Das ist es doch, was das Leben ausmacht. Und du musst nicht kochen. Wir gehen zum Italiener. Der ist nicht ganz so teuer.“
Endlich lächelt sie ein wenig. Ich sehe es an ihrem Mund. Doch die wahre Begeisterung bleibt aus, auch wenn sie sagt: „Das ist ja eine phantastische Idee!“
Es ist nicht immer leicht, denke ich, eine Ehe zu führen. Nach all den Jahren reicht es manchmal auch nicht mehr, etwas Besonderes zu planen. Immerhin kämpfe ich jeden Tag darum, die Ehe frisch zu halten. Ich immerhin kämpfe darum! Andere gehen auch da den bequemen Weg und suchen sich mal eben einen neuen Partner, wie man sich ein neues Tellerservice aussucht. Eine Ehe lässt sich aber nicht in den Keller bringen wie ein gebrauchtes Tellerservice und später auf dem Flohmarkt für ein paar Euro verhökern! Diese Leute haben dann vier Ehefrauen gehabt und wundern sich, dass es eine fünfte nicht mehr gibt. Am Ende wird die Zeche bezahlt. Deswegen kann man durchaus trinken, aber nicht durcheinander und nicht zu viel. Das Erwachen ist mit Kopfschmerzen verbunden.
Ich sehe meine Frau an und weiß, sie wird es mir am Ende danken, dass ich zu ihr gehalten und ihr jeden Tag etwas Besonderes geboten habe. Auch wenn sie es manchmal nicht erkennen kann.
Ich schiebe meinen Teller ein Stück zur Seite, damit sie weiß, dass ich mit Frühstücken fertig bin, und stehe wortlos auf. Bin ich einigermaßen gut gestimmt, drängt es gleich in mir.

 

10. Das Überflüssigste, was es gibt

Ich gehe ins Bad und schließe ab. Ich müsste zwar nicht abschließen, weil meine Frau weiß, dass ich gerade tue, aber es gibt mir Sicherheit. Ich muss dabei einfach für mich sein – wie ein Elefant, der zum Sterben auch allein sein will. Schließlich geht es durchaus um ein Stück Kultur.
Doch obwohl ich die gerade in eigener Weise zelebrieren will und ich mich sogar darauf freue, dass es bei mir nach dem Frühstück gleich tut, ich mich sogar auf das Gefühl freue, wenn es dann passiert, habe ich plötzlich wieder eine Hemmung, als ich sitzend doch zur Seite blicke. Sie haben doch da tatsächlich ein Bidet eingebaut. Da zieht sich bei mir wieder alles zusammen, und ein Gedanke prescht derart vor, dass er auch nicht mit Gewalt zu stoppen wäre: Das habe ich den Italienern zu verdanken, oder irgendwelchen Italophilen! Denn irgendjemand muss das Badezimmer ja bewusst so eingerichtet haben!
In Italien habe ich immer wieder diese Bidets gesehen. So verachtend, wie ich das Bidet angucke, weiß ich doch, dass es sich in Deutschland untergründig verbreitet, wie Klee, wenn der sich einmal im Rasen festgesetzt hat. Ich hasse es. Ein Bidet ist wie eine Bedrohung. Die Anwesenheit eines Bidets stellt ständig die Frage, wozu es wohl genau benutzt wird. Es kommt mir vor wie ein Angriff auf meine Reinlichkeit, als würde es unterstellen, dass ich nicht wirklich sauber wäre. Ich verdamme es geradezu.
Beim Stichwort Bidet kann ich nicht anders, als laut vor mich hin zu sprechen: „Ein Bidet? Die nehme ich immer, um mir darin die Fußnägel zu schneiden.“ Bei diesem Witz müssen doch alle garantiert lachen, alle Deutschen. Denn so denken ja wohl die meisten, von meiner Schwiegertochter und meinem Herrn Sohn natürlich mal abgesehen: Ein Bidet ist das Überflüssigste, was es gibt. Wenn man wirklich für so etwas noch Platz im Bad hat, kann man doch ein zweites Waschbecken montieren, oder gleich ein Pinkelbecken für die Männer. So ein Ding ist sowieso für die Frauen, und die nehmen eher einen Waschlappen, wenn überhaupt. Ich werde jedenfalls weiterhin nur Klopapier nehmen. Nein, ein Bidet ist etwas Fremdartiges. Schon deswegen sind mir die Italiener nicht ganz geheuer, obwohl sie sonst schon etwas von Kultur verstehen – das muss man ihnen lassen. Nur mit ihren Bidets bedrohen sie das Selbstverständnis der Deutschen. Als hätten die Deutschen keine Kultur! Am liebsten würde ich das Bidet in meiner Wohnung abreißen lassen. Das ließe sich jedoch nur mit großem Aufwand verwirklichen, also mit hohen Kosten. Es ist ja schon dahin gekommen, dass ich meine Frau im Verdacht habe, das Bidet selbst zu benutzen. Ich habe es schon ein paar Mal feucht vorgefunden. Einmal war ich kurz davor, durchs Schlüsselloch zu gucken. Aber da habe ich mich doch zusammengerissen. Ich will mich in das Bidet-Problem nicht hineinsteigern. Nur verdirbt es mir im Bad regelmäßig die Laune, und nicht nur das.
Als ich mir die Hände gewaschen habe und zurück ins Wohnzimmer schlurfe, ärgere ich mich aus vielerlei Gründen, vor allem aber, weil es mir nicht gelungen ist, einen einfachen Gedanken niederzuhalten, und weil dieser Gedanke mir dann verwehrt hat, richtig zu tun, so dass man danach wirklich erleichtert ist. Denn ich zelebriere das im Bad bestimmt nicht. Ich brauche dort keine Romane oder Comic-Hefte oder was bei anderen Leuten da so als Lektüre liegt. Als Lektüre! Ich setze mich auf die Schüssel und tue und fertig. Aber nun haben mir das wieder die Italiener vermasselt. Ihr komisches Bidet ist im Grunde mitschuld an meinen Verdauungsproblemen, dass ich deswegen auch noch diese gelben Tabletten nehmen muss.
Da fällt es mir schwer, nicht gereizt zu sein und wieder runterzukommen – gar kein schlechter Ausdruck, denke ich, auch wenn ich mich sonst dagegen wehre, in diese neudeutsche Gossensprache zu verfallen. Denn wenn man einmal auf einen Berg gestiegen ist, wie ich das in gewisser Weise so oft tue, kommt man eben nicht so schnell wieder runter.

© Andreas Venzke