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Unter Räubern

Boje-Verlag, Köln 2014

Sonntag 1. Juni 2014, von Andreas Venzke

Ein Roman für Jugendliche - und bestimmt auch für Erwachsene!

Darum geht’s: Wer es eher romantisch will, liest von einer packenden Geschichte, die vor 200 Jahren spielt (aber auch heute so ablaufen könnte). Sie handelt von zwei jungen Männern, besten Freunden, die aus der Schule abhauen und kriminell werden. Dabei kommen ihnen zwei junge Frauen in die Quere, eine als durchtriebene, lebenslustige Räubersbraut, die andere als Geisel. Nun haben die Freunde ein Problem ...
Wer es auch etwas tiefschürfend will, liest von dem Konflikt, dass ein unterdrückter Mensch ein freies Leben sucht, aber sich nicht dagegen wehren kann, plötzlich selbst andere beherrschen zu müssen ...
Und es geht natürlich (!) um die Liebe, die Grenzen überwindet - nichts Neues, aber schön, und dazu herrlich verwickelt, wie es mit der Liebe nun mal so ist.

Beschreiben kann das aber viel besser der Verlagstext:
Historischer Jugendroman, spielt in Württemberg um 1780. Sebastian will weg von der Stuttgarter Carlsschule, der Elite-Anstalt für die aufstrebenden Söhne des Landes. Mit Schlagstock und Arrestzelle werden hier aus sensiblen Seelen "harte Männern" gemacht. Zusammen mit seinem besten Freund gelingt Sebastian die Flucht. Sie entdecken die "andere Seite" der Gesellschaft, werden von Räubern aufgenommen und zeigen bald großes Talent fürs Gaunerhandwerk. Berauscht von der Freiheit, wird für Sebastians Leben wieder alles anders, als er nach einem Überfall Marie als Gefangene ins Räuberlager bringt. Die Tochter aus gutem Hause erobert sein Herz und er weiß, bei den Räubern kann er nicht bleiben ...

Das Buch ist in jedem Buchladen zum Preis von 14,99 Euro zu haben, aber auch per Klick fürs E-Book, wer das mag. (Außerdem kann man dort auf der Website von Boje mal in den Roman hineinlesen.)

Zu Unter Räubern sind auch ein paar Lieder entstanden, werkstattmäßig von einem Profi arrangiert. Sind zwar von vielen Erwachsenen gesungen, aber schon ok. Hier zwei zur Auswahl:

Wild und frei
Der Tod spielt seine Lieder

Die Liedtexte stehen im Buch. Die Noten dazu gibt es erst mal hier für das eine und hier für das andere.

Außerdem lässt sich auch beides im Film bewundern, Buch und Musik, und zwar hier auf youtube

Leseprobe

Die Flucht

Der Holzmeier war ein Arschloch! Sebastian tat alles weh. So lange
hatten sie noch nie exerziert: Vorwärts! Und links! Und geradeaus,
zwei drei! Rechts schwenk, drei vier! Und halt!
Sie waren eingespannt
wie Kutschpferde und mussten sinnlos Runden drehen. Und Oberst
Holzmeier machte es jeden Tag noch schlimmer. Immer stärker zog
er als Aufseher an der Stuttgarter Carlsschule die Zügel an, der
»Hohen Carlsschule«, wie sie seit einigen Jahren hieß.

Sebastian kam es so vor, als könnte er gar nicht mehr den Kopf
drehen. Bei jeder Bewegung, ob nur leicht hierhin oder dorthin,
tat’s irgendwo weh. Der Holzmeier konnte ihn nicht leiden, so viel
war klar. Oder der konnte es einfach nicht leiden, dass Sebastian
versuchte, selbst zu denken, wie Lehrer Abel das wollte – oder dass
er gern las und Bücher mochte, so was Weibisches! Vielleicht war
das wie eine Bedrohung für Holzmeier.

Sebastian war trotzdem nicht müde. Es war zwar schon halb
zehn und also eine halbe Stunde nach Schlafenszeit, aber es würde
noch eine Stunde hell sein, noch eine lange Stunde. Da konnten die
Aufseher in dem langen Schlafsaal mit seinen fünfzig Betten alle
Vorhänge zuziehen – es fiel doch noch genügend Licht in die einzelnen
Abteile. Wann hatte man schon so viel Zeit für sich, außer
im Schlaf? Es gab Freiheit, wenigstens im Kopf, dachte Sebastian,
und auf dem Papier – wenn man schreiben konnte –, wenn man was
zu schreiben hatte –, wenn man was zu sagen hatte!

Und wenn man aufpasste und geschickt war, konnte man sich
auch bei anderen Gelegenheiten seine kleinen Freiheiten verschaffen:
Johann war hergeschlichen und saß nun bei ihm auf dem Bett.
Sebastian hatte das niedrige Gitter zu seinem Abteil geschlossen.
So hatten sie immerhin das Gefühl, für sich zu sein. Auch in anderen
Betten wurde noch geflüstert. Wenigstens das ließen die wachhabenden
Offiziere zu, auch wenn sie von ihren Schlafplätzen am
Ende des langen Saals immer mal wieder riefen: »Silentium! Schlafen!
Ruhe jetzt!«

Sebastian lächelte Johann an und griff vorsichtig in seine Matratze,
wo das Laub inzwischen zu Staub zerbröselte. Erst im Herbst
würden sie die Matratze neu füllen. Er fingerte darin herum wie ein
Wiesel, das in ein Mäuseloch kroch. Endlich bekam er das Papier
zu fassen. Das würde er nie in der Kommode verstecken, die jeder in
seinem Schafabteil hatte. Die wurde immer mal wieder durchsucht,
auch heimlich, das wusste jeder. Sebastian zog das Papier hervor
und hielt es sich vor die Augen wie eine Schatzkarte. Es war ein
Schattenriss seiner Mutter. Viel mehr hatte er nicht von ihr.

»Sebastian, hör mal auf damit!«, sagte Johann. »Sie kann dir
auch nicht helfen!«

»Ob sie an mich denkt?«

»Klar! Ich geh jetzt noch was trinken.«

»Wenn sie wüsste, was der Holzmeier, dieses Arschloch, und der
Herzog … was das für welche sind!«

»Das weiß sie. Aber sie will nur dein Bestes! Und jetzt muss ich
mal …«

»Wenn ich plötzlich bei ihr vor der Tür stände!«, flüsterte Sebastian.
»Sie würde Augen machen!«

»Sie würde sich vielleicht eher vor Angst in die Hosen machen –
vor Angst um dich! Sie würden dich nämlich als Erstes bei ihr suchen
– und dann gehst du direkt in den Karzer!«

»Trotzdem abhauen!«, flüsterte Sebastian mit der Hand vor dem
Mund. »Das hätte schon einen Sinn, so wie der Schiller.«

»Ach, hör auf zu träumen!«, sagte Johann ziemlich laut, als plötzlich
ein Geräusch vor dem Gitter zu hören war. Sofort steckte Sebastian
den Schattenriss in die Matratze.

Beide hielten den Atem an und lauschten. Es war im Saal ziemlich
still geworden. Sie konnten nie sicher sein, ob nicht ein Aufseher
gerade umherschlich und nach dem Rechten sah. Sie hatten
zwar keine Angst vor ihnen und ertrugen alle Backpfeifen wie eingeschirrte
Esel, aber Johann war nicht in seinem Abteil. Das war ein
besonders schlimmes Vergehen.

Sie sahen sich lange an, ehe Johann ausatmete und sagte: »Ist
nichts! Sind wir jetzt wirklich mal leise und gehen schlafen! Ich
muss aber vorher unbedingt noch …«

Als Sebastian wieder nach dem Scherenschnitt fingerte, verdrehte
Johann die Augen und stand leise auf. Wer nachts noch mal
rausmusste, um zu pinkeln oder auch nur um was zu trinken, wollte
keinen unnötig stören, vor allem keinen Aufseher. Es konnte sein,
dass die einen nicht gehen ließen, gerade wie es ihnen gefiel – oder
dass man sich deswegen erst rechtfertigen musste.

Sebastian sah müde zu, wie Johann die paar Schritte zum Gitter
machte, es aufzog und mit Schwung den Vorhang zur Seite schlug.
Da stand Carl Eugen vor ihm, der Herzog höchstselbst.

»Was machen Sie denn …?«, fragte Johann und schwieg sofort.

Carl Eugen stand im Nachthemd vor ihm. Darüber hatte er seinen
Uniformrock gezogen. Johann lachte los. Sebastian grinste und
grinste immer mehr: Der Herzog sah aus wie ein vertrottelter Alter,
der in der Nacht herumirrte und nicht mehr nach Hause fand.

»Was erlaubt Er sich?«, schrie Carl Eugen, als er die Fassung
wiedergefunden hatte.

Sofort erschien einer der Aufseher, ausgerechnet Oberst Holzmeier,
und haute Johann links und rechts eine runter. Sogar Sebastian
spürte, wie weh das tat. Im Saal wurde es unruhig. Johann ballte
die Fäuste und presste sie sich an den Körper.

»Welch ein Benehmen!«, schrie der Herzog, und Johann sagte
leise: »Ich muss trinken. Ich verdurste.«

»Verdursten!«, schrie der Herzog weiter. »Welchen Vokabulars
bemächtigt Er sich im Angesicht Seines Vaters?«

»Ein Bedürfnis, Sire, ein starkes Flüssigkeitsbedürfnis!«

Carl Eugen stand da mit hochrotem Gesicht und redete plötzlich
ganz wirr: »Verdursten! Hier bei uns? Wo alle versorgt sind, für
alle gesorgt, keine Sorgen, nichts als Sorgen, immer Sorgen …«

Da stellte sich Oberst Holzmeier neben ihn, griff ihn unter den
Arm und führte ihn ganz sachte einige Schritte weiter, und noch einige
Schritte. Im Saal war es mucksmäuschenstill.

Johann schlüpfte schnell in sein Schlafabteil. Sebastian hielt sich
den Mund vor Lachen. Es dauerte nicht lange, bis im Saal einige
Jungen zu flüstern wagten, dann zu reden, dann sogar Rufe auszustoßen:
»So ein Spion!«

»Unser Vater!«

»Unterdrücker!«

Alle erkannten, dass der Herzog nicht mehr im Raum war, aber
auch die Aufseher nicht. Die Geräusche im Saal schwollen an wie
ein sich mächtig aufbauendes Gewitter. Dann donnerte es und es
war die Stimme von Holzmeier: »Silentium! Noch ein Laut von einem
von euch, und derjenige bekommt die Rute!«

Augenblicklich schwiegen fünfzig Jungen so sehr, dass von draußen
das Plätschern des Brunnens zu hören war.

Sebastian lag weiter wach und lauschte. Er horchte, ob nicht ein
Eleve auf dem Weg zu ihm war. Davor hatte er Angst. Gegen manche
konnte er sich allein nicht wehren. Zwei oder drei gab es, denen
machte es mindestens so viel Spaß wie dem Holzmeier, ihn zu demütigen.

Bald hörte er, dass alle fest schliefen, jedenfalls die allermeisten,
auch die Aufseher. Bei denen wusste man eigentlich immer am sichersten,
dass sie schliefen, weil sie fast alle schnarchten. Aber gerade
dann waren einige Jungen in ihren Abteilen hellwach. Manchmal
schlichen sich bestimmte Jungen sogar in andere Betten. Alle
wussten, was die machten. Sebastian war das aber nicht geheuer.
Einmal war auch zu ihm ein Junge gekommen, aber er hatte ihm
eine geknallt. Zum Glück! Seitdem wurde er in Ruhe gelassen.

Als die Uhr zwölf schlug, horchte er besonders aufmerksam.
Den Schlag der Glockenuhr am querstehenden Mitteltrakt der
Schule, dem Corps de Logis, konnte man besonders gut ausnutzen.
Und tatsächlich hörte er in ihrem Klang ein anderes Geräusch, ein
schleichendes. Er ging zum Vorhang und lugte hindurch: Es war
Johann, der hinausging, um Wasser zu trinken. Erst als nichts anderes
mehr als das ferne Schnarchen der Aufseher und das Plätschern
des Brunnens zu hören war, schlief Sebastian ein.

Nach dem Frühstück stand Unterricht an, wie es der Zufall wollte,
bei Holzmeier. Alle saßen kerzengerade auf den Bänken, die ohne
Lehne waren, damit die Eleven auch auf diese Weise genug Spannung
hatten, um den Ausführungen der Lehrer zu folgen. Eleven
mussten sich die Jungen zwischen zwölf und achtzehn nennen lassen.
Eleven, das waren die Musterschüler von Carl Eugen, junges
Menschenmaterial, das er nach seinem Willen formte. Das war der
Sinn der Carlsschule, das hatte Sebastian längst verstanden.

Es wunderte ihn an diesem Morgen gar nicht, dass Holzmeier
sofort ihn drannahm, um ihn bloßzustellen. Aber da war er an den
Falschen geraten. Zwar plusterte sich Holzmeier vor ihm wie ein
Gockel auf und schlug sich mit der Rute in die Hand, aber das
schreckte Sebastian nicht. Er hatte die Vokabeln und die Formen
intus. Er wusste, dass ihm Holzmeier deswegen nichts konnte.

Sebastian hatte seine Freude daran, Holzmeier auflaufen zu lassen.
Hochkonzentriert stand er vor dem Lehrer. Er kannte den Ablauf.

»Wollen!«, sagte Holzmeier, als wäre es ein Befehl zum Strammstehen.
»Indikativ Präsens!«

»Von wo?«, fragte Sebastian unschuldig.

»Von wo was? Ich will! Los! Marsch!«

»Sie wollen, Sire? Was bitte?«

Holzmeier starrte Sebastian zuerst ungläubig an, ehe er plötzlich
mit den Armen fuchtelte und rief: »Ich will! Ich will die Konjugation
von wollen, und zwar Indikativ Präsens Singular!«

»Volo, vis, vult«, antwortete Sebastian und nahm sich Zeit, zwischen
den Wörtern eine Pause zu machen, als müsste er überlegen.

Aber er kannte die Formen, obwohl sie unregelmäßig waren.

»Plural!«, sagte Holzmeier und klopfte mit dem Stock auf den
Tisch. »Schneller!«

Sebastian sprach die Worte schneller aus, machte aber weiter
Pausen, als müsste er überlegen.

Holzmeier drehte sich kurz von ihm weg, als würde er ihn in
Ruhe lassen, machte aber plötzlich einen Schritt auf ihn zu und
schrie fast: »Konjunktiv Präsens Singular!«

Sebastian konnte nichts passieren. Er spielte nun sein Spiel weiter
und fragte: »Wovon?«

»Davon! Von … äh … von wollen. Ich würde wollen! Weiter!
Zack, zack!«

»Du würdest wollen!«

Holzmeier hob drohend den Stock. »Will Er mich zum Besten
halten? Latein! Los!«

Sebastian sagte ruhig und ziemlich schnell: »Velim, velis, velit

Der Lehrer sah ihn von unten aus schmalen Augenschlitzen an
und rief dann: »Plural!«, wobei er sich aber plötzlich umdrehte und
den Eleven Gottfried ansprach. Der stand sofort auf, starrte aber
wortlos zur Tafel.

So tobte er sich dann an dem aus, der zu denen zählte, die es immer
abbekamen, wenn einer wie Oberst Holzmeier seine Wut ableiten
musste. Gottfried fielen nicht mal die Pluralformen von sein
ein. Bei manchen schaltete allerdings das Denken aus, wenn sie
fürchten mussten, bestraft zu werden. Der Eleve bekam dann »seine
Tatzen«, wie Holzmeier das nannte: mit der Rute zehn Schläge auf
die Finger, die er vor sich auf die Bank halten musste.

Bei Gottfried tat Sebastian das aber nicht leid. Der war nicht nur
dumm, sondern auch noch hinterhältig – einer von den Eleven, denen
nicht zu trauen war! Manchen Eleven wollte man ja gern helfen
und eingreifen, aber … Nein, dachte Sebastian, auch das wollte
man nicht mehr. Sie waren einfach schon zu abgestumpft.

Johann blieb seltsamerweise verschont. Vielleicht hatte Holzmeier
keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Johann. Der
machte es ihm nämlich schwer. Johann würde die Vokabeln vielleicht
sogar wissen und die dann mit Absicht ganz langsam sprechen.
Sebastian hatte das ja von ihm gelernt. Nur blieb Johann meistens
auf halbem Weg stecken. Trotzdem kam er immer noch ein
bisschen weiter und es war schwer, den richtigen Moment der Strafe
zu erwischen, zumal die nichts bewirkte: Johann ertrug die Schläge,
als gehörten sie zum Vokabelabfragen dazu. Er war als Eleve inzwischen
schon zu erwachsen. Holzmeier verunsicherte das: Es passte
nicht mehr zum Verhältnis von Lehrer und Schüler. Johann hätte
man eigentlich zum Duell herausfordern müssen, dachte Sebastian.

Alle Eleven waren müde, auch weil es in dem Klassenraum
warm und stickig war.

Holzmeier musste sich aber in seiner Autorität wohl noch ein
mal spüren. Er stellte sich vor die Klasse wie ein kleiner König. Er
wippte auf den Zehenspitzen auf und ab, wie um noch größer zu erscheinen.
Er wippte so lange, bis sich niemand auch nur noch räusperte.

»Würzen wir zum Abschluss unser Latein ein wenig mit Geografie:
Acceperunt multae urbes provinciae et populi singularia epitheta.
Martin! Übersetzen!«

Holzmeier wollte anscheinend keinen Ärger mehr. Deswegen
nahm er Martin dran, seinen besten Schüler.

Trotzdem fragte Martin nach: »Bitte noch einmal den Satz!«

Holzmeier verdrehte die Augen und wiederholte den Satz so
langsam, dass schon das wie eine Quälerei schien.

Martin übersetzte, ohne zu stocken: »Es haben viele Städte,
Landschaften und Völker besondere Beiwörter angenommen.«

Holzmeier atmete durch, wahrscheinlich weil der schwierigste
Teil der Übung geschafft war. Nun musste er nur noch das einfachste
Schülerwissen abfragen. Er drehte sich mit dem Rücken zur
Klasse und rief in den Raum: »Beginnen wir mit den Städten, als da
wären: Rom, die heilige!«

»Roma sancta!«, murmelten fast alle aufstöhnend.

»Florenz, die schöne!«

»Florentia pulchra

»Mailand, die große!«

»Mediolanum magnum

»Kommen wir nun zu den Landschaften, als da wären: Das
glückliche Arabien!«

Holzmeier drehte den Rücken zur Klasse und blieb so stehen. Es
schien, als wollte er sich selbst beweisen, wie sehr er seine Eleven
unter Kontrolle hatte. Sebastian kam er vor wie ein Schäfer, der seinen
Hund abrichtete.

Viele Schüler fingen aber sofort an, Grimassen zu schneiden,
während sie die Antworten in den Raum riefen.

»Arabia felix

»Das trockene Mauretanien!«

»Mauritania sicca

»Die bergige Schweiz!«

»Helvetia montosa

Immer mehr Schüler gähnten oder legten sogar den Kopf auf
den Tisch, während die übrigen umso lauter riefen, als müssten sie
die anderen in ihrer Müdigkeit oder ihrem Übermut schützen.

»Kommen wir nun zu den Völkern: Die abergläubigen Perser!«

»Persae superstitiosi

»Die Menschenfleisch fressenden Hottentotten!«

»Haha! Hottentottae carnem humanam devorantes. Haha!«

Alle kannten Holzmeiers Witze.

»Die eitlen Franzosen!«

»Galli vani

»Die dummen Badenser!«

»Badensi stulti

Holzmeier drehte sich mit einem Lachen um. Das aber erfror
ihm sofort im Gesicht, als er sah, wie seine Eleven herumlümmelten.
Alle schreckten augenblicklich hoch, doch ausgerechnet Martin
nicht, der übergeschnappt in die Klasse rief: »Suebi avari!«*

Da erst sah er, dass Holzmeier sich umgedreht hatte, und fuhr
zusammen.

Der sagte zu ihm, als hätte sein bester Schüler ihm persönlich
die Ehre abgegraben: »Auch du, Martinus? Das gibt ein Billett!«

Seine Stimme zitterte. Er war nicht nur enttäuscht, sondern
auch offensichtlich müde und erschöpft.

Holzmeier ließ aber noch eine Stelle aus Cäsars Bellum Gallicum
vortragen, aus dem Exkurs über die Germanen, was er mit Vorliebe
tat. Zwei andere, gute Schüler mussten abwechselnd vorlesen und
übersetzen: »Ihr ganzes Leben besteht aus der Jagd und der Beschäftigung
mit dem Krieg. Von Kindheit an gewöhnen sie sich daran, sich anzustrengen
und abzuhärten. Diejenigen, die am längsten ohne geschlechtlichen
Verkehr bleiben, werden am meisten gelobt. Denn sie
glauben, dass dadurch der Wuchs gefördert und die Kräfte und Muskeln
gestärkt werden. Dagegen zählt es zu den schändlichsten Dingen, vor
dem zwanzigsten Lebensjahr Bekanntschaft mit einer Frau zu haben.
Es gibt auch keine Möglichkeit, diese Sache zu verbergen. Sie baden
nämlich gemeinsam in den Flüssen und sind sonst fast nackt, weil sie als
Kleidung nur Pelze oder kleine Fellstücke benützen.
«

Doch während Holzmeier diese Passage sonst eigenartig auskostete,
sich die Hände rieb und sich mit der Zunge immer wieder über
die Lippen fuhr, blieb er diesmal ganz ruhig.

Es fiel auch kein Wort zum Abend vorher. Der Rest des Vormittags
ging überraschend friedlich vorüber.

Zur Mittagszeit heizte die Sonne mit aller Kraft ein. Höher hätte
sie nicht stehen können, weder an diesem Tag noch zu dieser Jahreszeit.
Unter ihr standen Sebastian und alle Eleven, schon seit einer
halben Stunde, und zwar auf dem großen staubigen Mittelhof
der Carlsschule. Im Hof gab es keinen Schatten.

Sebastian zitterten die Knie. Er konnte sich in der Hitze kaum
noch auf den Beinen halten, und er war hundemüde. Außerdem
hatte er Angst vor Carl Eugen. Es war Mittagsappell, und der Herzog
höchstselbst würde wieder aus seinem angrenzenden Schloss
kommen und sehen, ob sie alle so stramm standen, wie er das wollte.
Und er würde wissen, vor welchem Abteil sie ihn am Abend zuvor
als Spion erwischt hatten.

Den Kopf voller Gedanken stand Sebastian da allein in seinem
blauen Uniformrock mit der weißen Hose, dazu den schlackernden
Stulpenstiefeln, in denen sich gerade der Schweiß sammelte wie in
einem Waschtrog, auf dem Kopf einen Zweispitz mit Federbusch
wie ein Fasan. Das Schlimmste aber waren der aufgepflanzte Zopf
und die Schläfenlocken, nicht einmal die muffige Perücke. Die
hatte man sowieso immer zu tragen und konnte sie vielleicht noch
mögen. Am meisten machten ihm aber diese verkleisterten Löckchen
zu schaffen. Die baumelten am Hals herum wie Staubwedel.
In was für lächerlichen Klamotten sie doch steckten! Wenn ihn einer
aus dem richtigen Leben so gesehen hätte … Aber hier sah sie
niemand, sie waren auf der Carlsschule eingesperrt wie in einem
Gefängnis. Immer wieder dachte Sebastian an seine Eltern. Seine
Mutter hatte geweint, als sie ihn dem Herzog in die Hand gaben.
Sie hatte auch schon geweint, als der Vater angekündigt hatte, dass
es für Sebastian das Beste sei, auf die Carlsschule zu wechseln.

»Es gibt keine bessere Ausbildung als diese Eliteschule«, hatte er
gesagt und mit der Hand über seinen dicken Bauch gestrichen. »Da
wird er Buchhalter oder Jurist, dann kann uns nichts mehr passieren.
Die Buchhalter verwalten das Geld, und die Juristen die Gesetze.
Die sind immer fein raus.«

Die Mutter hatte aber gestöhnt: »Aber wir sehen ihn dann gar
nicht mehr!«

Doch das hatte die Mutter nur einmal gesagt, danach nie wieder,
vielleicht aus Rücksicht auf ihren Sohn. Ob es seinen Eltern wirklich
bewusst war, fragte er sich, dass sie ihn während der gesamten
Schulzeit nicht mehr zu Gesicht kriegen würden? Ein Schwesterchen
mit dem Namen Christine war in der Zwischenzeit zur Welt
gekommen, aber wie sie aussah, wusste er nicht. Der Vater sollte
mittlerweile ziemlich graue Haare haben. Eigentlich erlaubte der
Herzog seinen Eleven nur, die Eltern zu sehen, wenn einer von ihnen
starb – und vielleicht noch nicht mal das. Denn dem Klaus
hatte er nicht erlaubt, seinen Vater zu sehen, obwohl der im Sterben
lag. »Tröst Er sich«, hatte er zu ihm gesagt, »ich bin Sein Vater!«

Was für ein abgehobener, selbstgefälliger, seelenloser Mensch,
dachte Sebastian. Er hatte nur Verachtung für den Herzog übrig,
diesen Zyniker! Diesen Ausdruck hatte er an der Carlsschule nicht
erst im Philosophieunterricht gelernt.

Trotzdem hatte er es vielleicht noch gut. Er wusste wenigstens,
dass er seine Eltern sehen würde, wenn er aus dieser Erziehungsanstalt
heraus wäre. Darauf hatte er sich immer gefreut, eigentlich
vom ersten Tag an. Inzwischen wusste er aber auch, dass sich seine
Eltern nicht freuen würden, wenn er die Carlsschule verließ. Denn
er würde die Carlsschule nicht auf normalem Weg verlassen.

Andere Jungen hatten es vielleicht noch schwerer, so wie Johann.
Seine Eltern lebten nicht mehr. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt.
Und als seine Mutter ihn dem Herzog auf der Carlsschule
überlassen musste, weil der das einfach befahl, war sie ein Jahr später
gestorben. Johann redete eigentlich nie davon. Vielleicht war es
für ihn deswegen sogar leichter. Schließlich wartete niemand auf
seine Rückkehr, niemand freute sich auf ihn. So war Johann hart gegen
sich selbst geworden und er hatte gelernt, sich durchzusetzen.

Sebastian hatte Durst. Er hatte schon seit einer halben Stunde
Durst, seit sie auf dem Hof standen, in Reih und Glied. Er sah Flecken
vor sich, die hin- und hersprangen. Seine Zunge hing ihm im
Mund wie ein altes Stück Leder. Mit seinem Blick versuchte er dem
Monument in der Mitte des Hofes auszuweichen, was aber ein aussichtsloser
Kampf war. Unübersehbar hatte sich Carl Eugen darauf
als Statue abbilden lassen, unter sich verschiedene Darstellungen von
Tugenden, eine davon die Dankbarkeit.

Endlich kam er selbst, höchstpersönlich. Und er kam tatsächlich
vorgefahren, vielleicht von der Rückreise von irgendeinem Lustschlösschen.
Man hörte das Klappern der Pferdehufe auf dem Pflaster
vor der riesigen Schule. Wenn der Herzog nicht zu Fuß von seinem
Schloss herüberkam, beschirmt von zwei Günstlingen, kam er
stets in einer seiner Kutschen angefahren. Angeblich besaß er Dut-
zende davon, manche davon mit vergoldeten Nymphen und Grazien
geschmückt. Die Kutschen waren immer sechsspännig, am
besten achtspännig. Was für ein Anblick!

An besonderen Tagen, wenn Gäste die Errungenschaften seiner
Schule bewundern sollten, fuhr er direkt in den Hof. Vor seiner Karosse
ritten dann Trompeter vorweg, die es schafften, gleichzeitig mit
aller Kraft zu blasen, ohne dass die Pferde scheuten. Dazu dröhnten
das Hufgeklapper und das Drehen der eisenbeschlagenen Räder von
Mauer zu Mauer. Das war ein Spektakel! Man machte fast unwillkürlich
»Oh!« und »Ah!«. Die Eleven hatten dann die Gebäudeseite
wie eingepflanzte Bäume zu säumen. Wenn die Kutsche hielt, dauerte
es immer noch eine ganze Weile, ehe sich die Wagentür öffnete,
dass man sich fragte, ob etwas nicht stimmte. Stieg der Herzog dann
aus, machte keiner einen Mucks, auch nicht die geladenen Gäste.

Endlich, dachte Sebastian, als er ihn kommen sah: Endlich ließ
er sich blicken, der falsche Vater, der mit seinen Kindern machen
konnte, was er wollte. Der Herzog bewegte sich so langsam, als
müsste er sich bei jedem Schritt überlegen, wie er den Fuß zu setzen
hatte. Neben ihm gingen zwei Offiziere, einer davon Holzmeier,
der auf ihn einredete.

Carl Eugen war alt geworden, alt und aufgedunsen, obwohl er
versuchte, sich mit seiner feinen Kleidung in Form zu halten. Unter
dem Uniformrock trug er eine breite Schärpe, die sich stramm über
seinem dicken Bauch spannte. Der Herzog ging langsam, wie um
noch besonders zu betonen, dass ein Herrscher Eile nicht nötig
hatte. Er ließ sich zuerst von allen Offizieren der Schule begrüßen,
mit Handkuss. Holzmeier, der befehlshabende Oberst, forderte
dann die Kompanie der Soldatenschüler auf, strammzustehen.

Carl Eugen ergriff das Wort. Alle schwiegen, aber keiner hörte
zu. Sie hatten das schon hundertmal gehört:

Es ging um Elite, Auswahl, Anstand, Pflicht, Gehorsam und um
die Besten, und das lautete immer geschraubt wie: »… nachdem es
seiner regierenden herzoglichen Durchlaucht gnädigst gefällig gewesen
…«, oder: »… dass ein Eleve sich gänzlich den Diensten des
herzoglichen württembergischen Hauses widme …«, oder: »… dass
allen Gesetzen und Anordnungen des Instituts auf das Genaueste
nachzuleben geflissen sei …«

Sebastian sah wieder die Flecken vor sich, die wie Kühe über
eine Wiese zogen. Carl Eugen redete so lange, dass immer mehr
Kühe zu sehen waren. Sebastian achtete auf seine Knie, dass sie
nicht zusammenklappten. Manchmal machten sie eine seltsame
Bewegung, als würde ihm jemand von hinten in die Beine treten. Er
riss sich zusammen und die Knie wurden wieder steif. Dann
schmerzten sie aber erst recht.

Endlich kam der letzte Akt der Inszenierung: Carl Eugen schritt
die Reihe der Eleven ab. Immer wieder machte er halt und sprach
auf einen Jungen ein. Keiner antwortete mit mehr Worten als »Jawohl!
«, »Zu Befehl!« und »Ganz wie Sie wünschen!«.

Als die Reihe an Martin war, kamen dem die Tränen. Holzmeier
selbst redete aber schnell auf den Herzog ein. Der lachte dann und
schlug Martin wie aufmunternd auf die Schulter.

Sebastian sah Carl Eugen auf sich zukommen wie eine Schlange,
die witternd ihre Zunge ausfährt. Er wünschte sich, dass sie an ihm
vorbeikriechen würde. Das tat sie aber nicht.

Dem Herzog zitterten die Lippen vor Anspannung, als er zu Sebastian
sagte: »Habe ich Ihn nicht schon einmal ermahnt, dass Er
seine Schläfenlocken ordnungsgemäß befestige?«

»Jawohl!«

»Und warum befolgt Er meine Mahnung nicht?«

»Zu Befehl, Sire!«

»Ich habe Ihn etwas gefragt!«

»Wie Sie meinen, Sire!«

Plötzlich hatte Sebastian das Gefühl, alle Kühe auf der Weide
würden sich niederlegen. Sie knickten alle in den Knien ein.

Sebastian kam wieder zu sich, als ihm Holzmeier einen Eimer Wasser
ins Gesicht schüttete. Er sah sich verwirrt um und dachte an
seine Schläfenlocken. Aber Carl Eugen war schon gegangen.

»Was erlaubt Er sich?«, schrie ihn Holzmeier an. »Kann Er sich
nicht zusammenreißen? So muss Er ja wohl nicht in die Knie gehen,
wenn Ihn unser Landesvater anspricht!«

Sebastian hörte, wie die anderen Eleven lachten. Er hörte auch
Johann ein wenig lachen, aber so, wie sie das im Unterricht bei
einem Witz von Holzmeier taten: Haha!

Johann sagte immer, er würde sich auf seine Art gegen den Herzog
wehren. Er ließ sich einfach nicht unterkriegen. Man musste
seine Drohungen und Strafen einfach von sich abprallen lassen.

Aber Sebastian konnte das nicht. Es traf ihn tief im Inneren,
wenn ihn der Herzog, ein Aufseher oder einer der Jungen mal wieder
öffentlich bloßstellte. Das Gefühl, sich nicht wehren zu können,
machte ihn ganz krank. Es fraß ihm von innen die Eingeweide
auf. Er müsste einen anderen Weg finden, damit man ihn
nicht mehr so behandeln würde. Darüber dachte Sebastian wieder
nach, während er sich das Wasser aus dem Gesicht wischte und zur
Kleiderkammer ging. Die nasse Perücke mit den klebrigen Schläfenlocken
hielt er in der Hand wie ein vollgesogenes Aufwischtuch.

Er gab sie dem Oberst Brandstetter, der für die Kleiderkammer
zuständig war. Der verzog keine Miene, als Sebastian auch seine
verschmutzte Hose ablegte. Die hatte er eigentlich selber zu reinigen,
aber Brandstetter händigte ihm eine andere, frisch gewaschene
Hose aus und murmelte nur, dass er die so schnell wie möglich, und
sauber, zurückgeben müsse.

Als Sebastian »Danke!« sagte und die Hacken zusammenschlug,
lächelte Brandstetter auf einmal und fügte hinzu: »Nachdenken, das
ist wichtig!«

Oberst Brandstetter war anders als Holzmeier, der dem Herzog
mit Haut und Haaren ergeben war. Brandstetter hatte manchmal
Verständnis für die Schüler. Sebastian tat das gut.

Nun stand wenigstens der Höhepunkt des Tages an: das Mittagessen.
Doch vorher musste Sebastian noch einen Umweg zur Toilette
machen, die in einem der Seitenflügel untergebracht war. Sie
bestand aus einem großen Balken mit zwei Löchern und darunter,
in einer tiefen Grube, die Reste der menschlichen Verdauung. Alle
versuchten so schnell wie möglich, ihr Geschäft zu machen, um
dann wieder an die frische Luft zu kommen.

Als Sebastian mit hängendem Kopf die Toilette betrat, saßen
dort Peter und Gottfried auf dem Balken. Sebastian wollte draußen
warten.

»Nicht so schnell!«, rief Peter, sprang auf und packte Sebastian,
ohne sich abgeputzt zu haben. »Warte mal, Freundchen!«

Sebastian wollte Peters Griff abschütteln, aber der hielt ihn nur
noch fester. Peter war einer der stärksten Jungen.

»Was gibt’s?«, fragte Sebastian schnell.

»Was es gibt?«, sagte Peter und nun stand auch Gottfried auf und
stellte sich vor ihn. »Du hast uns beim Scheißen gestört, das gibt’s.«

»Lasst mich in Ruhe!«, rief Sebastian.

Da schlug ihm Gottfried so in den Bauch, dass ihm die Luft
wegblieb und ihm schlecht wurde.

»Musst du uns vor unserem gütigen, herzenslieben, anständigen
Vater so blamieren!«, zischte Gottfried und schlug ihm wieder in
den Bauch.

»Das kostet dich vierzig Kreuzer!«, flüsterte ihm Peter ins Ohr.

Sebastian dachte daran, dass es bei Strafe verboten war, Geld zu
besitzen.

»Ich habe kein Geld«, keuchte er und versuchte sich aus Peters
Griff zu befreien.

Wieder wollte Gottfried zuschlagen, als ihm Peter jedoch die
Hand festhielt. Gottfried ließ los.

»Bis morgen Abend kriegen wir von dir vierzig Kreuzer!«, sagte
Peter ruhig und kam ganz nah an sein Gesicht, »sonst …«

Da flog die Tür auf und Johann stampfte herein.

»Sebastian, wo bist du?«, rief er und blieb sofort stehen und atmete
tief ein und zog die Schultern zurück. »Was ist hier los?«

Johann schaute vom einen zum anderen, ehe er Gottfried in die
Augen sah.

»Nichts!«, sagte der und grinste und rief dann mit Blick auf Peter:
»Wir gehen jetzt!«

»Ihr bleibt!«, sagte Johann und stellte sich vor Sebastian. Er griff
sich an den Oberarm, wie um da seine Muskeln zu bändigen.

»Was gibt’s?«, fragte Gottfried.

»Was es gibt?«, sagte Johann. »Gleich gibt’s was auf die Ohren.
Was habt ihr mit dem da gemacht?«

»Nichts!«, antwortete Peter schnell, als ihm Johann sofort eine
knallte.

Peter wich zurück wie ein geprügelter Hund.

»Was wollten die von dir?«, fragte Johann Sebastian. »Komm,
sag’s mir!«

»Vierzig Kreuzer«, antwortete Sebastian.

Sofort knallte Johann Peter noch eine. Er drehte sich zu Gottfried,
und der wich zurück.

Johann blieb stehen und tat und sagte gar nichts mehr. Dann zog
er sich plötzlich die Hose herunter und setzte sich auf den Balken.
Dabei sprach er nur ab und zu etwas und machte immer wieder
übertriebene Geräusche der Anstrengung.

»Ich warne euch! … Lasst den in Ruhe! … Ah! … Der hat es
schwer genug…Uh! Ah! … Und jetzt geht und lasst mich in Ruhe
scheißen!«

Während Gottfried und Peter die Flucht ergriffen, zögerte Sebastian
noch.

»Danke!«, sagte er zu Johann.

Der aber entgegnete: »Und jetzt geh auch!«

Draußen sah Sebastian, wie in der Ferne Holzmeier mit Gottfried
und Peter redete. Die beiden waren bekannt dafür, für Unfrieden
zu sorgen. Sie hatten schon in der Arrestzelle gesessen.

Als Sebastian auf dem Weg zum Speisesaal an Holzmeier vorbeigehen
musste, sah der ihn nur abschätzig an, ließ sich grüßen
und sagte nichts. Sebastian hätte gerade heulen können.

Zum Mittag gab es Mehlsuppe wie schon zum Frühstück, aber immerhin
mit einem zwei Finger dicken Stück Käse. Danach endlich
Ausgang, ehe das Exerzieren folgen würde.

Der Spazierweg führte aus dem Schulgebäude hinaus, am herrschaftlichen
Holzgarten entlang und weiter durch die herrschaftlichen
Talwiesen. Die Hitze schien alles zu lähmen, aber für Sebastian
war es die Zeit für ein wenig Freiheit. Er ging neben Johann
und sie redeten leise, wie das alle taten.

»Kann es sein, dass es immer nur uns erwischt, immer uns beide?«,
fragte Sebastian auf einmal.

Johann sah sich vorsichtig um. Erst nach einer Weile sagte er:
»Das Gras steht hoch. Es hält den Boden feucht.«

»Ist dir das noch nicht aufgefallen, wie oft wir ein Billett zugesteckt
kriegen, und immer von Holzmeier?«, fragte Sebastian weiter,
der sich in der Natur nicht auskannte. Er kannte eigentlich nur
die Carlsschule. »Der kann uns doch auf den Tod nicht ausstehen.
Was haben wir dem nur getan?«

Johann antwortete wieder nicht. Da fasste sich Sebastian in
seine Uniform und zog einen Zettel hervor.

»Wieder der Scherenschnitt?«, fragte Johann.

»Nein, Schiller«, antwortete Sebastian und sah sich nun auch um
wie ein Dieb.

»Soll dieses Blatt echt von Schiller sein?«, fragte Johann und
gähnte.

[...]

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Besprechungen

"Das Räuberleben wird nicht heroisiert, wie beispielsweise in Schillers ’Die Räuber’, welches auch mehrfach genannt wird. Man ergreift nicht unbedingt für die Räuber Partei, nicht einmal für Dennele, sondern eher für die einzelnen Personen, die sich trotz ihrer ungünstigen Situation noch rechtschaffen verhalten. Ebenso sind die Bösen nicht nur Holzmeier, sondern auch einige der Räuber, die sich an keine geschriebene oder ungeschriebene Regel halten.
[...] Es wird im Allgemeinen mehr Wert auf die Reaktionen und das Verhalten aller Personen und ihr Gefühlsleben gelegt, als auf die Spannung und Aufregung, die man bei so einem Titel erwarten würde. Die Spannung ist eben auf eine andere, mehr zwischenmenschliche, Art da.
Eine schöne Geschichte, die die Skrupel eines Räubers und warum er es überhaupt geworden ist, gut beschreibt und auch zu empfehlen ist."
Julia Therese Kohn
www.alliterus.com

"Im Roman hilft eine Karte von Württemberg bei der Orientierung der Handlungsplätze. Venzke hat einen sehr spannenden Erzählstil und punktet mit seinen glaubhaften Charakteren. Der Roman ’Unter Räubern’ ist in historische Begebenheiten eingebettet, die sehr gut vom Autor recherchiert wurden. Man erfährt ganz nebenbei, wie sich ein Leben als Räuber damals gestaltete. Ein wunderbarer Roman, der historische Ereignisse, eine kleine Liebesgeschichte und viel Spannung in sich vereint. Auch für erwachsene Leser durchaus lesenswert."
http://vonmainbergsbuechertipps.wordpress.com

"großer literarischer Roman"
Bayern 2-JugendbuchFavorit

"Ein richtig genialer historischer Roman. Diese Geschichte hat mich so sehr gefesselt, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. [...] Es ist aber nicht nur ein Roman über das Räuberleben; es ist auch eine Entwicklungsgeschichte, wie sich der Bücher liebende, eher zurückhaltende junge Sebastian zu einem selbstbewussten Mann und Anführer entfaltet. [...] beginnt er sich zu fragen, wann bzw. ob es überhaupt eine Grenze für einen Räuber gibt. Diesen moralischen Konflikt fand ich besonders interessant, vor allem, da Sebastian genauso wie sein Freund Johann erst einmal von dem freien Leben der Räuber begeistert sind, waren sie doch bisher das strenge Leben in der Carlsschule gewöhnt.
Dieses Buch hat alles drin, was ein historischer Roman meiner Meinung nach haben sollte: Spannung, Historie und ein guter Schuss Liebesgeschichte."
Johanna, 17 Jahre
http://www.buecher-leben.de

„Jetzt gehen wir weit zurück – ins Jahr 1780 nach Stuttgart. Dort lebt Sebastian. Und der will weg von der Carls-Schule, der Elite-Anstalt für die aufstrebenden Söhne Württembergs. Mit Schlagstock und Arrestzelle werden aus sensiblen Seelen „harte Männer“ gemacht. Zusammen mit seinem besten Freund Johann gelingt ihm die Flucht.
Die beiden werden von Räubern aufgenommen und zeigen bald großes Talent fürs Gauner-Handwerk. Sebastian und Johann genießen die Gemeinschaft, die rauen Sitten und den Reichtum, wenn sie wieder einmal erfolgreich eine Kutsche überfallen haben. Das geht so lange gut, bis Sebastian bei einem Überfall Marie gefangen nimmt. Natürlich verliebt er sich in die junge Frau aus guter Familie. Mehr wird nicht verraten … Ein historischer Jugendroman, der einen gefangen nimmt.“
(pap)
Südkurier

"Ein gelungener historischer Roman, spannend und dicht."
observer – Das internationale Buchmagazin

"Mich hat fasziniert, wie der Autor Andreas Venzke das Buch geschrieben hat, denn man konnte sich sehr gut in die Handlungen und in die Personen hineinversetzen. Ich war von dem Buch gefesselt und konnte mich nur schwer von ihm lösen. Außerdem befindet sich in dem Buch eine Karte von Deutschland im 18. Jahrhundert. So weiß man immer, wo sich die Hauptpersonen gerade befinden. Eigentlich fand ich alles an der Geschichte toll. Ich kann das Buch nur weiterempfehlen, an Leser ab ungefähr 12 Jahren, aber die aollten dann kein Problem mit blutigen Szenen haben."
Marie Schulze (14 Jahre)
floh – das Schülermagazin mit Hallo&Welt

"Das Buch ist sehr spannend! Ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören, das Buch weiterzulesen. Der Schreibstil ist sehr fesselnd, ich konnte mich sehr in die Situation der Jugendlichen hineinversetzen. [... ] Schade finde ich lediglich, dass es noch keinen zweiten Teil gibt, weil das Buch abrupt endet und es auf eine Fortsetzung hinausläuft. Ich vergebe daher 5 von 5 Sternen."
Vincent Rein (11 Jahre)
www.buecherkinder.de

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